Bewertung medizinischer Therapieverfahren: Wie wertvoll sind Meta-Analysen wirklich?

Bewertung medizinischer Therapieverfahren: Wie wertvoll sind Meta-Analysen wirklich?

Im letzten Gesundheitsbrief hatte ich Ihnen am Beispiel der Kopenhagen-Studie zu Antioxidantien aufgezeigt, dass Meta-Analysen leider nicht den erwarteten objektiven Nutzen haben und anzunehmen ist, dass Meta-Analysen wohl auch dazu dienen, Wahrheiten zu verschleiern oder in das Gegenteil zu verkehren. Claus Fritsche hat sich ebenfalls dieser Problematik angenommen und hat drei Beispiele gefunden, in denen vergleichende Meta-Analysen zu jeweils gegensätzlichen Ergebnissen führen.

Alle drei Beispiele stammen übrigens aus dem Bereich der sog. Komplementärmedizin, oft auch als alternative Medizin bezeichnet. In allen drei Bereichen kommen die Meta-Analysen mit negativer Beurteilung aus Kreisen, die der Pharmaindustrie nahestehen.

Zweifelhafte Meta-Analysen an drei Beispielen

Von Claus Fritzsche

Geht es um die Erforschung und Bewertung medizinischer Therapieverfahren, so wird Meta-Analysen eine sehr hohe Aussagekraft nachgesagt. Das Deutsche Cochrane-Zentrum (Sie sollten wissen, dass das Cochrane-Zentrum nur für die Pharmaindustrie arbeitet) definiert eine Meta-Analyse als statistisches Verfahren mit dem Ziel, die Ergebnisse mehrerer Studien zu einer identischen Fragestellung zu einem Gesamtergebnis zusammenzufassen. Auf diese Weise soll die Aussagekraft bzw. die Genauigkeit der Effekteinschätzung im Vergleich zu Einzelstudien erhöht werden. So attraktiv das mit Meta-Analysen verfolgte Konzept auch – zumindest theoretisch – klingt, in der Praxis scheitert es nicht selten an zwei Hürden. 1. Meta-Analysen bilden hoch komplexe Systeme mit ihren vielen Variablen nur ungenügend ab. 2. Die Ergebnisse von Meta-Analysen lassen sich durch Fragestellung und Beobachtungs-Perspektive relativ leicht in eine bestimmte Richtung hin „formen“.

Ein besonderer Reiz der medizinischen, komplementärmedizinischen und homöopathischen Forschung besteht in der Tatsache, dass identische Zahlen, Daten und Fakten von verschiedenen wissenschaftlichen Fraktionen unterschiedlich (mitunter diametral entgegengesetzt) interpretiert werden. Nachfolgend stelle ich Ihnen Meta-Analysen zu den Themen Folsäure (Vitamin B), Akupunktur und Homöopathie vor, die eine Gemeinsamkeit haben: unterschiedliche Forscher publizierten hier Meta-Analysen, die bei identischer oder ähnlicher Datenlage zu sich gegenseitig widersprechenden Einschätzungen kommen.

Folsäure: Zwei Meta-Analysen mit sich gegenseitig widersprechenden Ergebnissen

Die Karl und Veronica Carstens-Stiftung berichtete am 02.03.2009, zu welchen (unterschiedlichen) Ergebnissen zwei aktuelle Studien zum Thema „Folsäure“ gelangen:

„Folsäure ist ein Vitamin (B9) mit nachgewiesenen Effekten auf die Endothelfunktion. Das dies nicht unbedingt eine Risikoreduktion bedeutet, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erkranken oder zu sterben, hat eine Meta-Analyse über 12 Studien gezeigt (Bazzano et al. JAMA 2006), in denen eine tägliche Folsäure-Nahrungsergänzung mit einem Placebo verglichen wurde.

Dieser Meinung widerspricht nun eine andere Arbeit, wiederum eine Meta-Analyse placebokontrollierter Studien (MCRae et al. J Chiropractic Med 2009). In dieser wurde gezeigt, dass sich mit einer Folsäuresupplementation der Blutdruck zwar nur leicht senken lässt, die Endothelfunktion sich aber deutlich verbessert. Der Autor rechnet hoch, dass sich damit etwa 5 bis 10% aller Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern lassen dürften …"

Fazit:

„Man sieht wieder einmal, Forschung in der Medizin ist bei weitem nicht eindeutig. Die Meta-Analyse gilt als schärfstes Mittel des Erkenntnisgewinns in der therapeutischen Forschung. Dennoch gilt: nur ein kleiner Wechsel des Blickwinkels führt zu komplett konträren Ergebnissen.

Im Übrigen gibt es natürlich auch Erklärungsversuche für die widersprüchlichen Ergebnisse. Der Autor der neuesten Studie nimmt an, dass sich die gesundheitsrelevanten Effekte der Folsäuresupplementation erst bei hohen Dosierungen einstellen (über 5.000 µg/Tag). Vielleicht sind aber auch die Modelle, anhand derer von der Endothelfunktion auf die Mortalitätsrate hochgerechnet wird, falsch.“

Akupunktur: Zwei Meta-Analysen mit sich gegenseitig widersprechenden Ergebnissen

Hintergrund: Zwei Meta-Analysen der Cochrane-Collaboration zur Akupunktur in der Kopfschmerztherapie kamen trotz identischer Datenlage zu sich gegenseitig widersprechenden Ergebnissen. Ursache der unterschiedlichen Einschätzung von Asbjørn Hróbjartsson et al. vom Nordic Cochrane Centre in Kopenhagen sowie von Klaus Linde von der Technischen Universität München ist die unterschiedliche Interpretation der Verum-Placebo-Differenz. Besteht zwischen Verum- und Placebogruppe kein oder nur ein sehr geringer Unterschied in der Wirkung, so schließt der Mainstream medizinischer Forschung daraus auf eine fehlende therapeutische Wirkung.

Der relative Unterschied zwischen Verum- und Placebobehandlung soll – so die Theorie – die Größe des spezifischen Effektes abbilden. Dieser spezifische Effekt, so die allgemeine Annahme, ist derjenige Anteil am Therapieerfolg, der auf der Grundlage der spezifischen Wirksamkeit einer Intervention zustandekommt. Die unspezifischen Therapieeffekte sollen sich hingegen – so die Annahme – in der Placebogruppe niederschlagen. Zu den unspezifischen Effekten gehören u. a. Messartefakte, statistische Regression zur Mitte, die Erwartungshaltung der Patienten, der Einfluss einer erhöhten Aufmerksamkeit oder aber schlicht Ehrfurcht einflößende therapeutische Rituale.

Spätestens seit Publikation der Naproxen-Studien von Bergmann JF et al. sowie der Gerac-Studien (german acupuncture trials) ist jedoch bekannt, dass diese klassische (in der pharmazeutischen Forschung durchaus sinnvolle) Sichtweise falsch ist. Bergmann et al. zeigten eine Überlegenheit von Placebo gegenüber Verum (ohne Wissen). Probanden erhielten das Schmerzmittel Naproxen zunächst mit Wissen. Dabei zeigte sich eine Überlegenheit gegenüber Placebo. Gab man den Probanden das Schmerzmittel Naproxen jedoch ohne ihr Wissen, so wirkte es signifikant schwächer als ein Placebo (mit Wissen). – Im Fall der german acupuncture trials (gerac) zeigte sich, dass die Wirkung von Verum-Akupunktur (48%) und Placebo-Akupunktur (44%) bei den untersuchten Indikationen fast identisch war, die einer konventionellen Therapie mit 27% jedoch signifikant niedriger lag.

Fazit:

Aus den hier zitierten Naproxen- und gerac-Studien ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die in der Placebogruppe versteckten unspezifischen Faktoren im Einzelfall einen therapeutisch wertvollen und in randomisierten Studien replizierbaren Effekt haben können. Diese unspezifischen Faktoren können den spezifischen Faktoren im Einzelfall sogar deutlich überlegen sein. Zur Beurteilung des therapeutischen Nutzens einer Intervention macht es somit Sinn, neben der Verum-Placebo-Differenz auch den Effekt der unspezifischen Faktoren (z. B. durch Vergleich mit konventionell behandelten Kontrollgruppen) zu untersuchen. Randomisierte klinische Studien (RCTs) alleine reichen zur Bewertung der unspezifischen Faktoren nicht aus.

Homöopathie: Zwei Meta-Analysen mit sich gegenseitig widersprechenden Ergebnissen

Die medizinische Fachzeitschrift The Lancet publizierte 1997 (Linde et al.) und 2005 (Shang et al.) zwei sich gegenseitig widersprechende Meta-Analysen zur Homöopathie und verschwieg ihren Lesern darüber hinaus zwei nicht uninteressante Re-Analysen ihrer 2005er Meta-Analyse aus dem Jahr 2008 (Rutten/Stolper und Lüdtke/Rutten). Auch medizinische Fachjournalisten sind Menschen mit wissenschaftlichen sowie wissenschaftsfernen Interessen und Motiven. – Dr. Christian Ullmann, ehemals Redakteur der Süddeutschen Zeitung, schrieb am 03.08.2006 unter der Überschrift: „Klaus Lindes spätes Eingeständnis zur Homöopathie und die Kritik an der Egger-Studie:“

„Im Jahre 1997 veröffentlichte er (gemeint ist: Klaus Linde, Anmerkung CF) – zusammen mit sechs weiteren Mitarbeitern – in Lancet die Studie „Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? A meta-analysis of placebo-controlled trials“ (Lancet 1997, 350:834-43). Darin kamen die Autoren unter anderem zu der „Interpretation“, dass „die Ergebnisse unserer Metaanalyse nicht mit der Hypothese vereinbar sind, dass die klinischen Effekte der Homöopathie vollständig auf Placebo zurückzuführen sind.“

Bis zum September 2005, also gut acht Jahre lang, war das der Maßstab, an dem sich die internationale Diskussion über Homöopathie orientieren konnte, zumal da Lancet als führende medizinische Fachzeitschrift als zuverlässig gelten konnte.

Dann erschien – ebenfalls in Lancet – unter fast gleichlautendem Titel die Studie „Are the clinical effects of homoeopathy placebo effects? Comparative study of placebo-controlled trials of homoeopathy and allopathy“ von Aijing Shang, Matthias Egger und Mitarbeitern (Lancet 2005, 366:726-732), inzwischen weithin als „Egger-Studie“ höchst kontrovers diskutiert. Deren Ergebnis, so interpretieren die Autoren ihre Arbeit, sei mit der Auffassung, „dass die klinischen Effekte der Homöopathie Placebo-Effekte sind“ vereinbar. Den Herausgebern von Lancet reichte das aus, um in einem Editorial derselben Ausgabe apodiktisch „The end of homoeopathy“ festzustellen …

Was aber in dieser facettenreichen Diskussion besonders verblüfft, ist Lindes spätes Eingeständnis gravierender Mängel, welche die 1997er „Linde-Studie“ offenbar völlig unbrauchbar macht. Linde schreibt in seinem Kommentar: „Die jetzige Diskussion hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in den Problemen des Ansatzes der von Kollegen und mir 1997 vorgelegten ›positiven‹ Metaanalyse. In dieser haben wir Studien zusammengeworfen (›gepoolt‹), die man eigentlich auf keinen Fall zusammenwerfen sollte: zu Komplexmitteln und individueller Mittelverschreibung, zu Muskelkater und Migräne, mit einer Dauer von wenigen Tagen bis zu Jahren und mit völlig unterschiedlichen Zeitkriterien.“

Im Jahr 2006 erläuterte Klaus Linde die methodischen Schwächen seiner im Lancet publizierten Meta-Analyse aus dem Jahr 1997 (übrigens ein Zeichen von Mut, Professionalität und weltanschaulicher Neutralität). Am 03.11.2008 publizierte der The Lancet herausgebende Verlag ELSEVIER wiederum eine Pressemeldung mit der unscheinbaren Überschrift „New evidence for Homeopathy“, die sich als schallende Ohrfeige für die Lancet-Redaktion interpretieren lässt. Diese hatte nicht den Mut, die Re-Analysen von Rutten, Stolper und Lüdtke zu publizieren. Die zwei Re-Analysen konnten belegen, dass die Egger-Analyse aus dem Jahr 2005 neben groben handwerklichen Fehlern genau die von Klaus Linde beschriebenen methodischen Fehler vorweist.

In der Pressemeldung des Verlags ELSEVIER kritisiert Prof. George Lewith (University of Southampton) u. a. folgende Aspekte der 2005er Meta-Analyse von Shang et al., die The Lancet dazu veranlasste, auf der Grundlage von nur acht homöopathischen und sechs konventionellen Studien das vermeintliche Ende der Homöopathie mehr herbeizureden als durch Fakten zu belegen (→ Lancet-Pressemeldung vom 26.08.2005):

Was lernen wir daraus?

Die drei Beispiele sich gegenseitig widersprechender Meta-Analysen stammen zufällig aus der komplementärmedizinischen Forschung. Ich bin mir allerdings sicher, dass sich entsprechende Fälle ebenso in der pharmazeutischen Forschung finden lassen. Macht man sich die Mühe und prüft die Ursachen der diversen gegensätzlichen Interpretationen auf einer Mikroebene, so werden sich hier leicht bestimmte Fehlertypen ableiten lassen: handwerkliche Fehler, Vergleiche von Äpfeln mit Birnen (d. h. fragwürdiges Pooling heterogener Studien), unterschiedliche methodische Grundannahmen, die irrtümliche Verwechselung von Korrelationen mit Kausalbeziehungen, dezente Studien-Selektion und vieles andere mehr. Summa summarum sehe ich jedoch (wie oben erwähnt) zwei alles überragende Ursachen für fehlerhafte und/oder divergierende Interpretationen von Meta-Analysen: