Adelle Davis: Die Zucker-Sintflut

Adelle Davis: Die Zucker-Sintflut

Ich hatte Ihnen versprochen, immer mal wieder einen Gesundheitsbrief aus den Texten von Adelle Davis zusammenzustellen. Heute erhalten Sie den Text "Die Zucker-Sintflut" aus dem Buch "Jeder kann gesund sein". Dieses Buch ist im Handel leider nicht mehr erhältlich. Nach meinen Recherchen wurden die deutschen Veröffentlichungsrechte von einem großen deutschen Lebensmittelkonzern aufgekauft. Sofern ich richtig rechercheirt habe, werden auch die englischsprachigen Bücher nicht mehr verlegt - auch diese Bücher sind nur noch antiquarisch erhältlich. Sie werden nach einigen weiteren Briefen mit Texten aus den Büchern von Adelle Davis sicher selbst herausfinden, warum ein großer deutscher Lebensmittelkonzern Interesse daran hatte, dass diese Bücher nicht neu verlegt werden dürfen.

Doch jetzt zum Text von Adelle Davis:

Die Zucker-Sintflut

Vor kurzem hatte man mich in einer Stadt, die wegen ihrer guten Restaurants berühmt ist, in ein bekanntes Speiselokal eingeladen. Das Essen bestand aus Salat, Steak, Kartoffeln, Bohnen, warmen Brötchen, Honig, Kaffee und einer Auswahl von Kuchen und Gebäck. Die Salatportion war winzig. Das Steak hätte sich sehr geschmeichelt gefühlt, wenn man es auf 15 Gramm Proteingehalt geschätzt hätte. Es lag auf einem Stück Toast, damit es dicker aussah.

Dafür gab es eine Sintflut von Zucker, bestehend aus Kartoffelstärke, Toast, Bohnen, Brötchen, Torten, Honig und Nachspeisen; man hätte auch noch Zucker zum Kaffee nehmen können. Unsere Gruppe wollte am Abend noch arbeiten, doch niemand fühlte sich nach solch einer Mahlzeit noch dazu imstande. Die drei von uns, die etwas von Ernährungslehre verstanden, aßen das Steak und den Salat und bestellten jeder ein Glas Milch.

Unsere heutige Ernährung basiert größtenteils auf Zucker. Deshalb glaube ich, daß das Leben eines jeden, der nichts von Ernährungslehre weiß, in Gefahr ist. In diesem Strom gefangen, wird das unschuldige Opfer ständig von Zuckerfluten überschwemmt, sei es bei gesellschaftlichen Anlässen, sei es beim Essen im Restaurant oder bei den Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten zu Hause. Zucker ist, genau wie Wasser, ein lebensnotwendiger Stoff, doch ein Ozean davon ist zuviel. Man erkennt diese Situation häufig nicht ganz klar, da viel Zucker »versteckt« ist. Es gibt Leute, die ein oder zwei Tassen Zucker pro Tag verzehren und immer noch glauben, daß sie überhaupt keinen Zucker gegessen haben.

Außer dem Zucker, den man als solchen erkennt und mit Haferflocken, Kaffee und Obst oder in Form von Süßigkeiten, Marmelade oder Gelee zu sich nimmt, verzehrt man ein oder mehrere Eßlöffel granulierten Zucker in jedem kleinen Glas Obstsaft, Ingwerbier, Kola-Getränk, Most, Wermut oder Cocktail, in jeder Portion Kuchen, Torte, Pudding, Eis, Süßspeisen jeder Art, Dosenkompott, ja sogar mit jedem einzelnen Keks.

Fast jeder Nährstoff, den wir zu uns nehmen, versorgt uns mit natürlichem oder potentiellem Zucker in irgendeiner Form. In allen Früchten ist Fruktose oder Fruchtzucker enthalten, ferner Sacharose, der gewöhnliche Tafelzucker, und Glukose, der Zucker, der auch im Blut vorkommt. Honig und das Fruchtfleisch von Trauben bestehen fast ganz aus Fruktose und Glukose. Diesen Zucker findet man auch in Süßkartoffeln, Mais, Zuckerrüben, Zwiebeln und anderen Gemüsen. Datteln bestehen zu 78, Rosinen zu 64 Prozent aus Zucker. Dagegen enthält eine Tafel Schokolade nur 54 Prozent. Zucker von getrockneten Früchten haftet noch stärker an den Zähnen als Zucker von Bonbons und ist deshalb für die Zähne noch gefährlicher.

Glukose und Fruktose treten beide unverändert ins Blut über und können sogar durch die Magenwand hindurch absorbiert werden. Wenn man etwa beim Frühstück den Zucker vom Orangensaft zu sich nimmt, erreicht dieser das Blut innerhalb von drei bis vier Minuten. Es gibt zwei weitere Zuckersorten, Galaktose und Mannose, die unverändert ins Blut übergehen, doch müssen sie erst in Glykogen verwandelt werden, bevor sie zur Energieproduktion verwendet werden können. Der wertvollste Zucker ist Laktose und kommt nur in der Milch vor. Dieser Zucker ist schwerer verdaulich als andere Zuckerarten. Es hat sogar den Anschein, daß er manchmal gar nicht verdaut wird. Deswegen macht Laktose nicht dick. Falls die Laktose doch absorbiert wird, zerfällt sie zuerst in Glukose und Galaktose. Babys, die Muttermilch bekommen, sind selten dick. Dagegen werden Babys, die Flaschenmilch mit der gleichen Menge Zucker erhalten, oft stark übergewichtig. Magermilchpulver besteht zu 56 Prozent aus Laktose, Molkenpulver ungefähr zu 95 Prozent. Laktose dient als Nahrung für die lebenswichtigen Darmbakterien, die sie in Milchsäure umwandeln. Bei fettfreier Diät kann allerdings ein Übermaß an Milchzucker schädlich sein.

In vielen Früchten und Gemüsen wie Äpfeln, Ananas, Mohrrüben und Erbsen ist der gewöhnliche Tafelzucker, Sacharose, enthalten. Auch der Zucker in Ahorn- und Zuckerrohrsirup und Melasse ist zum größten Teil Sacharose. Die totgekochte Substanz, welche amüsanterweise »Rohzucker« genannt wird, ist Sacharose, zusammen mit ein paar Molekülen Eisen und anderen Mineralien. Sie hat alle Nachteile des raffinierten Zuckers, der Zahnverfall erzeugen kann, die Insulinproduktion zu stark anregt und den Appetit verdirbt. Vielleicht trägt diese Substanz in gewissen Zeiten zum seelischen Wohlbefinden bei, indem sie eine Art Kraftgefühl vermittelt.

Persönlich bin ich allerdings dafür, daß man an erster Stelle nicht sich selbst zum Narren halten sollte.

Während der Verdauung wird der Tafelzucker in Glukose und Fruktose aufgespalten. Ein ähnlicher Zucker, die Maltose, kommt in Malz vor. Beim Abbau von Stärke entsteht Maltose vorübergehend im Darm und wird dann zu Glukose weiterverarbeitet.

Die bedeutendste Quelle für verborgenen Zucker ist die Stärke. Wir könnten aus frischem Obst und Gemüse wie Bananen, Äpfeln, Mais, Erbsen, Bohnen, Süßkartoffeln, Kartoffeln und Kürbissen mehr als genug Stärke gewinnen, um unseren Bedarf zu decken. Statt dessen werden wir fast bei jeder Mahlzeit überschwemmt von Zucker, der aus billigen Stärkeprodukten stammt: vorbehandelte Getreideflocken, Brot, Makkaroni, Nudeln oder Spaghetti, getrocknete Bohnen, Linsen, Erbsen, Reis, Kuchen, Torten und Gebäck jeder Art. Wenn Sie daran zweifeln, daß Stärkeprodukte dieser Art Sie förmlich überfluten, dann sollten Sie versuchen, einige Wochen lang in einer Kantine zu essen. Sie werden merken, wie ungeheuer kräftig Sie sich fühlen! Falls Sie Ihren Zuckerkonsum einschränken wollen, müssen Sie alle vorbehandelten, stärkehaltigen Nahrungsmittel wie eine Portion Zucker ansehen.

Es gibt noch andere Zuckerquellen. Da Tiere Zucker in Form von Glykogen-Stärke speichern, bekommen wir ihn in dieser Form beim Verzehr von Leber und anderem Fleisch, von Fisch, Muscheln und Schnecken. Wie jede andere Stärke wird auch Glykogen während der Verdauung zu Glukose abgebaut. Alle Fette bestehen zu etwa 10 Prozent aus Glyzerin, das im Körper in Zucker umgewandelt werden kann. Zitronensäure aus Orangensaft, Milchsäure aus Buttermilch, Apfelsäure aus Äpfeln können im Körper in Glykogen umgewandelt und später als Zucker freigesetzt werden.

Aus einem noch nicht genau bekannten Grund scheint Glukose oder Traubenzucker, der in Honig und in frischem Obst vorkommt, weniger schädlich zu sein als gewöhnlicher Tafelzucker. Bei Testpersonen, die eine vollwertige, aber chemisch reine Kost erhielten, bei der Glukose die einzige Kalorienquelle war, sank das Blutcholesterin bis zu einem Durchschnitt von 140 Milligramm ab. Später gab man gewöhnlichen Tafelzucker statt der Glukose, und, obwohl man weiter nichts an der Kost änderte, stieg das Blutcholesterin bald bis auf gefährliche Grenzwerte. Viele Forscher glauben, daß der übermäßige Konsum von raffiniertem Zucker bei der Cholesterinablagerung eine wichtigere Rolle spielt als die harten gesättigten Fette.

Zucker ist für den Körper genauso wichtig wie jedes andere Nahrungsmittel, doch wenn man gesund bleiben will, sollte man ihn unraffiniert und aus natürlichen Quellen nehmen. Auch dann dient Zucker nur einem Zweck, nämlich für die Produktion von Energie verfügbar zu sein, wenn solche gebraucht wird. Sonst könnte es sein, daß er als Fett für den Rest Ihres Lebens gespeichert wird. Zucker kann weder Körpergewebe aufbauen noch Ihre allgemeine Gesundheit oder Ihr Aussehen verbessern.

Quelle: Adelle Davis: „Jeder kann gesund sein“, Originaltitel: „Let’s eat right to keep fit“ (1970)