Skandal um Krankenkassen: Wie krank ist unser Gesundheitssystem?

Stiften Krankenkassen Ärzte zum Betrug im Finanzausgleich an? Die AOK Rheinland/Hamburg weist den Vorwurf zurück. Doch eine hohe Strafe akzeptiert sie.

Der Vorstandschef der Techniker Krankenkasse gab unlängst zu, dass die Kassen Ärzten dafür Geld gäben, ihre Patienten auf dem Papier kränker zu machen, als sie sind. Sie zahlten dafür eine Milliarde Euro, denn für kranke Versicherte gebe es höhere Zuweisungen als für gesunde.

Beinahe unter dem Radar der Öffentlichkeit hat nun die AOK Rheinland/Hamburg ein Gerichtsverfahren wegen eben solcher Falschkodierungen still und leise niedergeschlagen. Das Bundesversicherungsamt (BVA) hatte sie vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen verklagt. Sie sollte 7 Millionen Euro zahlen.

Denn die AOK, so schreibt das Gericht, habe „im Zusammenwirken mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und ausdrücklicher Billigung durch die Aufsichtsbehörde auf die Vertragsärzte in Nordrhein und Hamburg hingewirkt, die Diagnosen bei der Behandlung von AOK-Versicherten nachträglich derart zu ergänzen, dass die Versicherten kränker werden“. Wegen nachträglicher Datenkorrekturen habe die AOK zu hohe Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds erhalten. Das sei zu Lasten der anderen Kassen gegangen, für die es weniger Geld gab.

Warum Krankenkassen Patienten kranker machen als sie sind

Die Versicherten der AOK verdienen im Schnitt weniger Geld, sind älter und kränker als die von konkurrierenden Krankenkassen. Im deutschen Gesundheitssystem soll das Geld gerechter verteilt werden, um einige Fehlentwicklungen zu korrigieren. Doch manche Kasse blockiert – und kann dabei auf gewiefte Lobbyisten zählen.

Wann immer im politischen Berlin die Rede auf die mächtigsten Einflüsterer der Republik kommt, fällt ein Name immer wieder: AOK. Tatsächlich beschäftigt der Bundesverband der Allgemeinen Ortskrankenkassen in der Hauptstadt eine Lobbyistentruppe, die ihresgleichen sucht: Etwa 30 Mitarbeiter zählen zu der Abteilung, die sich unverdächtig „Politik und Unternehmensentwicklung“ nennt. Die meisten anderen Krankenkassen können sich dagegen höchstens eine Handvoll Lobbyisten leisten.

Allerdings steht auch für kaum eine andere Kasse derart viel Geld auf dem Spiel. Gilt es doch, den Löwenanteil aus einem gigantischen Geldverschiebemechanismus zu sichern, der nach einem Bericht der „Welt am Sonntag“ in Verruf geraten ist. Dabei geht es um einen Finanzausgleich, bei dem die Kassen mit den meisten Kranken und Alten auch am meisten Geld erhalten. Das System mit der sperrigen Bezeichnung „morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich“ verleitet jedoch Kassen dazu, ihre Patienten kränker erscheinen zu lassen als sie tatsächlich sind.

Die AOK's versichern rund ein Drittel der Deutschen

Nun zeigt sich, wie erfolgreich die AOK dafür kämpft. Im Juli 2016, kurz bevor der Bundestag in die Sommerpause ging, machte die SPD den Allgemeinen Ortskrankenkassen ein Geschenk: Im Parlament war genau dieser gigantische Umverteilungstopf zwischen den Krankenkassen Thema. Geplant war ein Beschluss, der diesen gut 200 Milliarden Euro schweren Topf leicht anpassen, ihn also gerechter für die Krankenkassen und damit für ihre Mitglieder machen sollte.

Doch dazu kam es damals nicht. Auf Druck der SPD-Fraktion wurde der Punkt von der Tagesordnung gestrichen. Der Strippenzieher dieser Aktion, bestätigt ein ehemaliger hochrangiger AOK-Manager, war die AOK Rheinland/Hamburg. Die Interessensvertretung der Kassen funktioniert auf allen Ebenen, sowohl in den Ländern als auch im Bund, berichten Brancheninsider.

Dafür sprechen auch ihre politischen Erfolge beim Umverteilungstopf in den vergangenen Jahren. 2014 erhielten die elf Ortskrankenkassen aus dem Fonds gut 72 Milliarden Euro, deutlich mehr als alle anderen Kassen. Laut AOK liegt das daran, dass sie ein solch gewaltiger Apparat sind: Sie versichern 24,7 Millionen Menschen, ein Drittel der Deutschen. Außerdem verdienen ihre Versicherten im Schnitt weniger Geld, sind älter und kränker als die von Konkurrenten wie beispielsweise der Techniker Krankenkasse.

Manipulation an den Diagnosen

Bei den Kassen, die in den Topf einzahlen, hält man den Ausgleichsmechanismus dennoch für ungerecht. Zwar bestreitet niemand, dass die AOK Geld bekommen soll, nur soll es nicht so viel sein. Unfair findet man es beim Dachverband der Betriebskrankenkassen (BKK), dass Kassen – die AOK mehr als alle anderen – Geld für Versicherte bekommen, die unter Volkskrankheiten wie Bluthochdruck oder Diabetes leiden. Deren Behandlung sei nicht besonders teuer.

Dass an dieser Argumentation etwas dran ist, belegt übrigens ein Gutachten, das das Gesundheitsforschungsinstitut Iges 2015 im Auftrag mehrerer Betriebskrankenkassen erstellt hat.

Keine Stellungnahmen der Kassenärztlichen Vereinigungen

Die Sätze haben es in sich. Denn sie bestätigen drei Vorwürfe. Erstens: Kassen „wirken“ auf ein „Upcoding“ durch die Ärzte hin, sie bezahlen also dafür. Zweitens: Ärzteorganisationen machen mit. Drittens: Landesaufsichten tolerieren solches rechtswidrige Verhalten.

Gerne hätte man die Stellungnahme der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Landesaufsicht gehört, doch der zur weiteren Verhandlung angesetzte Gerichtstermin wurde abgesagt. Die AOK hatte am Vortag den Bescheid des BVA akzeptiert und die Klage dagegen zurückgezogen. Offenbar wollte die Gesundheitskasse Aufsehen vermeiden. Erstmals hat damit eine Kasse solche Verstöße eingeräumt.

„Pragmatische Lösungen sind manchmal gegenüber langwierigen gerichtlichen Auseinandersetzungen vorzuziehen“, sagte der Vorstandsvorsitzende der AOK, Günter Wältermann, der F.A.Z. Er bestritt allerdings, dass es der AOK darum gegangen sei, Patienten „kränker zu machen, als sie sind“. Die Abrechnungsregelungen seien sehr komplex und gelegentlich umstritten. „In diesem Fall haben wir die Rechtsauffassung des BVA im Vergleichswege akzeptiert.“

Dafür war Wältermann nicht nur bereit, jene zu viel kassierten 5,6 Millionen Euro zurückzuzahlen. Er überweist auch einen happigen Strafzuschlag von 1,4 Millionen Euro, den das BVA in den Bescheid über 7 Millionen Euro Bescheid eingerechnet hatte. Das BVA ermittelte gegen 11 Kassen, die versucht haben sollen, ihre Lage auf Kosten der übrigen Kassen zu verbessern. Nur im Falle der AOK Rheinland/Hamburg sei es zu einem Verfahren gekommen, sagte ein Sprecher.

Verschiedene Lösungsansätze

Manipulationen am Risikostrukturausgleich beschäftigen den Gesundheitsausschuss. Der hatte einen Ministeriumsbericht beraten, in dem drei Betrugsformen beschrieben werden. Demnach rufen Kassen Patienten an, etwa um sie nach einem leichten Herzinfarkt über ein abermaliges Risiko „aufzuklären“ und zu einem neuen Arztbesuch zu veranlassen, womit die Diagnose eine weiteres Mal notiert und im Finanzausgleich relevant werde.

Auch schickten Kassen „Kodierberater“ mit Patientenlisten zu Ärzten, um für den Finanzausgleich bedeutsame Krankheiten festzustellen und zuweilen nachträglich zu korrigieren. Die Parlamentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz (CDU) wies auf die relativ neue Praxis hin, wonach Kassen „Betreuungsstrukturverträge“ mit Ärzten eingingen, die „indirekt auch auf die Dokumentation bestimmter Diagnosen gerichtet sind“.

Der Bundestag will diese Praxis beenden. Der in der Union für Arzneimittel zuständige Politiker Michael Hennrich (CDU) sieht in optimierter Praxis-IT eine Lösung. Da die Ärzte besser über die Wirkung neuer Arzneimittel informiert werden sollen, wäre dies ein Weg, die „richtige“ Diagnose festzustellen. Der Schweregrad einer Erkrankung machte sich an der registrierten Medikation fest. Ein anderer Ansatz wäre, Patienten einzubinden, wie es in Amerika mit „open-notes“ erfolgreich geschehe. Dann müssten Ärzte ihre Patienten über Diagnosen und Kodierung informieren.

Damit sänke das Risiko, dass aus einer depressiven Verstimmung eine Depression oder aus Rückenbeschwerden ein Bandscheibenvorfall würde. Und das kann fatale Folgen für die Patienten haben.

Vervierfachung von Depressionsdiagnosen

So ist die Schwelle zum Betrug nicht weit. Die Kassen haben einen Anreiz, die Ärzte dazu zu bewegen, nicht nur richtig zu codieren, sondern die Patienten auf dem Papier noch kränker zu machen. So fällt auf, wie stark manche Diagnosen zulegen. Die TK selbst berichtet von einer Vervierfachung der gemeldeten Depressionen in den vergangenen vier Jahren.

Deutschland wird auf dem Papier kränker. Das kann auch für die Patienten unangenehme Folgen haben. Wenn die falsche schwere Diagnose in die Patientenakte gelangt, könnten andere Ärzte oder Krankenhäuser, die darauf vertrauen, eine unpassende Therapie verordnen.