Hilft gesunde Ernährung dabei, Aggressionen zu verringern?

Weltweit einmalig: In den Niederlanden erhalten Häftlinge und Psychiatriepatienten Nahrungsergänzungsmittel, um eine umstrittene These zu untersuchen.

Kann eine gesunde Ernährung dabei helfen, Aggressionen zu verringern? Ja, entsprechend einer verblüffenden Untersuchung des Justizministeriums. Um ganz sicher zu sein – und das ist weltweit einmalig – erhalten Häftlinge und Psychiatriepatienten im ganzen Land Nahrungsergänzungsmittel.

Kraftnahrung für das Gehirn?

Ein Gefängnisdirektor und ein Psychiater sprechen über Aggression in ihren Einrichtungen und erklären, warum sie an dem Experiment mit gesunder Ernährung teilnehmen möchten. Wenn Früchte und Gemüse vor Krebs schützen, und Kalzium für kräftige Knochen gut ist, und die Fettsäuren im Fisch dabei helfen können, kardiovaskuläre Erkrankungen zu vermeiden, dann gibt es vielleicht auch Kraftnahrung für das Gehirn. Es ist nicht so, dass unser IQ aufgrund der täglichen Einnahme von Blaubeeren in die Höhe schießt, aber die Fragestellung der Forscher steht über all diesem: Was verursacht eine ungesunde Ernährung bei dem komplexen Kontrollzentrum im Kopf? Wenn eine Mahlzeit aus Fett und Zucker unseren Körper auslaugt, kann dann unser Gehirn einen dermaßen Schlag versetzt bekommen, dass sich unser Verhalten als Ergebnis hiervor verändert? Und kann eine gesunde Ernährung dies wieder instand setzen?

In ihrem Büro an der Universität in Leiden (LUMC) legen der Psychiater Erik Giltay und die Neuropsychologin Anke Schat zwei Kapseln auf den Tisch: Eine transparente Kapsel, die eine Mischung aus zwei Fischölfettsäuren enthält, und eine dunkelbraune Kapsel, die 22 Vitamine und Mineralien enthält. Die Ergänzungsmittel werden für ein paar hundert Psychiatriepatienten in Kliniken für seelische Gesundheit im ganzen Land zur Verfügung gestellt. Ziel: Zu untersuchen, ob eine bessere Ernährung zu weniger Aggression führt; Aggression ist ein Hauptproblem in der Psychiatrie.

Am Rand der Gesellschaft

Ein Stück weiter die Straße hinunter, beim Ministerium für Sicherheit und Justiz in Den Haag, zeigt der Forscher Ap Zaalberg eine Schachtel mit dutzenden von Pillentütchen. Sie wurden für die Studie über Ernährung und gewalttätiges Verhalten in Haftanstalten verwendet, die er vor einigen Jahren in acht niederländischen Gefängnissen durchgeführt hat. Zaalberg, der im Forschungs- und Dokumentationszentrum des Ministeriums arbeitet, war begeistert von dieser Thematik und erhielt kürzlich seinen Doktorgrad an der Radbound Universität Nijmegen. Seine Schlussfolgerung: Häftlinge, die Nahrungsergänzungsmittel erhalten, zeigen weniger gewalttätiges Verhalten.

Das Ministerium ist so begeistert über die Ergebnisse, dass für die Forschungsarbeit ein dauerhaftes Nachfolgeprogramm festgelegt wird: 5 Justizvollzugsanstalten und 2 Jugendgefängnisse werden eine Zeit lang Nahrungsergänzungsmittel bereitstellen und die Auswirkungen in Bezug auf die Anzahl der Vorkommnisse dokumentieren. Ein weltweit einmaliges Experiment, das von der Regierung bezahlt wird.

Gefängnisse und Kliniken für seelische Gesundheit setzen auf eine Überrepräsentation von Menschen vom Rand der Gesellschaft und in diesem Randbereich hat gesundheitsbewusstes Verhalten eine Priorität. Erik Giltay und Anke Schat nahmen an einer Studie mit über 20 Psychiatriepatienten teil und stellten fest, dass sie oft nicht ausreichend Nährstoffe erhalten. Sie erklären dies so: Die von den Patienten in Anspruch genommene Medikation kann in Bezug auf Süßes und Fett eine Rolle spielen: Sie verstärkt das Verlangen hiernach.

Bevor sie mit ihrer Forschungsarbeit über Ergänzungsmittel anfingen, haben sie untersucht, wie oft Aggressionen in Pflegeanstalten für seelische Gesundheit vorkommen. Sie erstellten eine Liste über die Anzahl der Vorkommnisse in drei Anstalten für Psychiatriepatienten und zählten über 100 pro Patient pro Jahr, angefangen von Beschimpfungen bis hin zu gewalttätigem Verhalten und Selbstverletzung. In Gefängnissen gibt es weniger Gewalt, aber die meisten Mitarbeiter werden regelmäßig mit physischer und verbaler Aggression konfrontiert.

In Leiden und Den Haag ist man vorsichtig, man will dort nicht sagen/behaupten, dass sich die Verbrechensrate massiv erhöht hat, weil man verstärkt auf das Essen von Fast Food umgeschwenkt hat. Nahrungsergänzungsmittel jedoch sind sicher, leicht zu verabreichen und nicht teuer, sie kosten nicht mehr als 1 Euro am Tag pro Insasse oder Patient. Wenn eine Handvoll Ergänzungsmittel helfen kann, die Aggressionen nur um ein paar Prozentpunkte zu verringern, so sagen sie, spart dies eine Menge Sorgen und eine Menge Geld.

Gesunde Ernährung als Geheimwaffe?

Das Interesse an diesem Thema entstand im Sommer 2002, als britische Medien über eine Ernährungsstudie in der Jugendvollzugsanstalt von Aylesbury in Buckinghamshire berichteten. Der ehemalige Bewährungshelfer Bernard Gesch teilte mehr als 200 junge Insassen in zwei Gruppen ein und gab ihnen drei Monate lang Ergänzungsmittel oder ein Placebo. Die Anzahl der gewalttätigen Vorkommnisse in der Gruppe der Ergänzungsmittel war um 26% niedriger als in der Placebo-Gruppe und Gesch fasste dies in einem Artikel des British Journal of Psychiatry zusammen. Die BBC schrieb: „Eine gesunde Ernährung könnte die Geheimwaffe der Regierung gegen Verbrechen sein.“

Die politische CDA Partei (eine Art CDU) stellte parlamentarische Anfragen: Wäre es nicht eine gute Idee für die Niederlande? Ap Zaalberg bekam die Anfragen zufälligerweise auf seinen Schreibtisch. Er musste sie im Auftrag des Ministers beantworten und er erinnert sich noch immer daran, was er dachte, als er zu antworten begann: „Das muss eine wilde homöopathische Geschichte sein.“ Bis er verstand, dass hinter der britischen Studie ‚wirkliche Wissenschaft‘ steckte. Er verstand sehr schnell, dass eine Anwendung in niederländischen Gefängnissen nicht auf der Agenda stand. Eine Wiederholung der Studie war notwendig und zwar bevor sie in den Bereich der politischen Ebene gebracht werden konnte. „Der koordinierende Psychologe des gesamten Strafvollzugsystems erzählte mir, dass wir dies an eine Universität auslagern könnten, aber dass wir dies (das Experiment) auch selbst machen könnten.“

Die Studie wird begonnen

Und so kam es, dass Ap Zaalberg plötzlich die Leitung für die interessante Studie übertragen wurde: 221 Häftlinge in acht Einrichtungen bekamen zum warmen Mittagessen acht Tabletten für einen Zeitraum von 1 bis 3 Monaten. Ein juristischer Mitarbeiter fuhr monatelang mit Tütchen voll mit Kapseln quer durch das Land. Egal, ob sie echt oder unecht waren, ob sie Fischölfettsäuren, Vitamine und Mineralstoffe enthielten oder nicht, keiner wusste es, nicht einmal die Mitarbeiter. Für das Experiment suchte Zaalberg nur Abteilungen mit jungen Erwachsenen aus. In dieser Gruppe gab es die meisten Vorkommnisse, erklärte er, und deshalb kann ein möglicher Erfolg statistisch hier am besten aufgezeigt werden.

Wenn die Häftlinge die Tabletten ordnungsgemäß geschluckt haben, bekamen sie in Form einer Telefonkarte wöchentlich eine Entschädigung. „Es gab Häftlinge, die nur wegen der Telefonkarte teilgenommen haben“, sagte Hall Mountain, „aber es gab auch Jungs, die sagten: ‚Bei mir brennt leicht eine Sicherung durch und es macht mir Sorgen. Wenn hier ein Experiment durchgeführt wird, das mir helfen könnte, dann mache ich das‘.“

Gesunde Nahrung schien tatsächlich wirksam zu sein: In der Gruppe, die Ergänzungsmittel eingenommen hatte, verringerte sich die Anzahl der Vorkommnisse um 34%, während sie in der Placebo-Gruppe um 14% anstieg. Nur die Fragebögen, die die Häftlinge vor und nach dem Versuch ausfüllten, waren im Ergebnis nicht unterschiedlich: Ihr Aggressionsniveau veränderte sich nicht und ihre psychologischen Symptome gingen nicht zurück. Jedoch sagte Zaalberg, dass die Anzahl der Vorkommnisse für die Mitarbeiter und andere Insassen eine viel höhere Relevanz hat: „Diese Vorkommnisse werden als zerstörerisch und gefährlich angesehen.“

Gleiche Ergebnisse in England und in den Niederlanden

So zeigte eine ähnliche niederländische Studie zehn Jahre nach der britischen Forschungsarbeit in Gefängnissen die gleichen Ergebnisse und deshalb, so Zaalberg, konnte man es in die Praxis umsetzen. „Buikhuisen hat letztendlich recht behalten“, schrieb der Generalsekretär des Ministeriums an den Seitenrand der Studie, als er die Ergebnisse sah. Der Kriminologe Wouter Buikhuisen wollte bereits vor 30 Jahren Forschungen hinsichtlich der biologischen Faktoren bei kriminellem Verhalten durchführen und schlug unter anderem vor, mit Straffälligen Ernährungsexperimente durchzuführen. Aber seine Vorschläge kollidierten mit dem damaligen Zeitgeist und man begegnete ihm mit so viel Geringschätzung und Hass, dass er die Wissenschaft verließ.

An der gleichen Universität, an der Buikhuisen einst seine umstrittene Forschung durchführen wollte, arbeiten heute zwei junge Wissenschaftler, die seinen Weg weitergehen. Der Psychiater Erik Giltay und die Neuropsychologin Anke Schat werden eine Studie unter 200 Psychiatriepatienten durchführen. Sieben Kliniken für seelische Gesundheit haben bereits ihre Bereitschaft zur Teilnahme gezeigt. Die Patienten werden fortlaufend für die Dauer von 6 Monaten täglich entweder Ergänzungsmittel oder ein Placebo erhalten. Zu Beginn und am Ende der Studie wird ihr Blut untersucht, um den Nährstoffgehalt zu bestimmen. Die Mitarbeiter erfassen die Anzahl der Vorkommnisse und die Patienten füllen Fragebögen über ihre Stimmung aus. Durch die Teilnahme kann man Punkte erhalten, für die man sich Geschenkgutscheine verdienen kann.

Und so geht es weiter:

In den kommenden Monaten ist es wichtig, dass gute Placebos zur Verfügung stehen, sagt Giltay lächelnd. Bald werden die beiden mit Zaalberg über seine Forschung sprechen. Sie wissen auch, dass er seine Mühe mit einem verräterischen Placebo hatte oder mit witzelnden Häftlingen. Als die Häftlinge am Ende der Studie gefragt wurden, ob sie glaubten Placebos oder Ergänzungsmittel eingenommen zu haben, lagen zwei Drittel richtig. Wenn sie spekuliert hätten, wären es 50% gewesen. Zaalberg musste die Erfahrung machen, dass die Häftlinge eine Studie daraus gemacht haben: Sie verglichen die Farbe ihres Urins und sogar den Geruch ihrer Blähungen. „Wie sie es herausgefunden haben, ist nicht relevant. Einige hatten es herausgefunden und das hat die Ergebnisse eventuell beeinflusst.“

Deshalb bleibt er zurückhaltend: Der Stolz des Mitarbeiters des Justizministeriums, der erkennt, dass seine Forschung Wirkung zeigt, geht Hand in Hand mit der Skepsis des Wissenschaftlers, der realisiert, dass stärkere Beweise benötigt werden. Der Nachweis muss von der Nachfolgestudie in sieben niederländischen Institutionen kommen. In den kommenden Jahren werden unabhängige Wissenschaftler die Wirkungen der Ergänzungsmittel testen.

Sogar Großbritannien wird eine Wiederholung durchführen. Der ehemalige Bewährungshelfer Gesch hat seine Gefängnisforschung aus dem Jahr 2002 bekräftigt – eine verbesserte Version davon: In drei Institutionen, mit Blutuntersuchungen und neurokognitiven Tests. „Eine vielversprechende Studie“, sagt Zaalberg. Die Ergebnisse werden demnächst erwartet.