Antidepressiva: Neue Warnhinweise auf suizidales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen

Die neue Auswertung von Studiendaten bringt Hersteller von Antidepressiva in Erklärungsnot: Zwei weitverbreitete Medikamente wirken bei Jugendlichen nicht. Stattdessen drohen starke Nebenwirkungen.

Warnhinweise auf suizidales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen

Antidepressiva vom Typ der selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI) sind hinsichtlich des Risikos für das Auftreten von suizidalem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich neu bewertet worden. Der wissenschaftliche Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMEA) kam zum Ergebnis, dass diese beiden Klassen von Antidepressiva nicht bei Kindern und Jugendlichen angewendet werden sollten, es sei denn, dass sie explizit eine Zulassung für die Anwendung in dieser Altersgruppe haben.

In einem früheren Risikobewertungsverfahren hatte der CHMP bereits das Antidepressivum Paroxetin hinsichtlich eines erhöhten Risikopotenzials für unerwünschte Nebenwirkungen wie Selbstmordversuch, suizidale Gedanken und Feindseligkeit bei Kindern und Jugendlichen sowie Absetzerscheinungen nach Beendigung der Therapie beurteilt. Das Ergebnis dieser Bewertung ist nach der Entscheidung der Europäischen Kommission mit einem Stufenplanbescheid umgesetzt worden.

In klinischen Studien wurde bei mit SSRI / SNRI behandelten Kindern und Jugendlichen suizidales Verhalten (Suizidversuche und Suizidgedanken) sowie feindseliges Verhalten (vorwiegend Aggressivität, Oppositionsverhalten und Wut) häufiger beobachtet als bei Kindern und Jugendlichen, die mit Placebo behandelt wurden. Der CHMP hat sich daher für deutliche Warnhinweise auf diese Risiken ausgesprochen und entsprechende Änderungen in den Produktinformationen formuliert.

Nur für Erwachsene zugelassen

Die meisten der betroffenen Arzneimittel sind in Europa nur für Erwachsene mit Depressionen oder Angststörungen, nicht jedoch für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassen (mit Ausnahme einiger Arzneimittel zur Behandlung der Zwangsstörung bei Kindern und Jugendlichen und einem Arzneimittel (Atomoxetin) zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung (ADHD)).

Wenn der behandelnde Arzt aufgrund der klinischen Notwendigkeit dennoch entscheidet, die Depression oder Angststörung eines Kindes oder eines Jugendlichen mit einem der oben genannten Arzneimittel zu behandeln, sollte der Patient/die Patientin insbesondere zu Beginn der Behandlung sorgfältig im Hinblick auf suizidales Verhalten, Selbstverletzung und feindseliges Verhalten überwacht werden.

Der CHMP weist auch darauf hin, dass Langzeiterfahrungen über den Einfluss von Antidepressiva auf Wachstum, Reifung sowie zur kognitiven Entwicklung und Verhaltensentwicklung bei Kindern fehlen.
Eine Behandlung sollte nicht plötzlich und ohne ärztlichen Rat abgebrochen werden, da es zu Absetzerscheinungen wie z.B. Schwindel, Kribbeln in den Gliedmaßen, Schlafstörungen, Angst, Zittern, Übelkeit, Reizbarkeit kommen kann, die bei einigen Patienten auch schwer verlaufen und lang anhalten können. Es wird daher empfohlen, die Behandlung mit einer schrittweisen Verringerung der Dosis über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten zu beenden.

Wenn die Europäische Kommission der Empfehlung des CHMP zustimmt, werden die Änderungen in den Produktinformationen für alle SSRI / SNRI mit einer Anordnung (Stufenplanbescheid) des BfArM gegenüber den pharmazeutischen Unternehmen in Deutschland umgesetzt werden.

Für Paroxetin werden die Warnhinweise zum erhöhten Risiko für suizidales Verhalten bei Kindern und Jugendlichen an den einheitlichen Wortlaut aus dem SSRI / SNRI-Verfahren angepasst werden. Weitere Warnhinweise aus dem abgeschlossenen Paroxetin-Verfahren bleiben davon unberührt, z.B. die Hinweise darauf, dass

  • das Risiko für suizidales Verhalten möglicherweise auch bei jungen Erwachsenen (18 bis 29 Jahre) und bei Patienten mit suizidalem Verhalten oder Selbstmordgedanken in der Vorgeschichte erhöht sein kann. Diese Patientengruppen sollten deshalb während der Behandlung ebenfalls besonders sorgfältig überwacht werden.
  • auch Neugeborene von Absetzerscheinungen betroffen sein können, wenn die Mutter in der späten Phase der Schwangerschaft Paroxetin-haltige Arzneimittel eingenommen hat. Dies sollte nur bei zwingender Indikation erfolgen.

Die wissenschaftlichen Gremien bei der Europäischen Arzneimittelagentur haben sich weiterhin darauf verständigt, die Warnhinweise auf die erhöhte Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen in die Produktinformationen der tricyclischen Antidepressiva (TCA) aufzunehmen.

Das BfArM fordert die behandelnden Ärzte, Therapeuten sowie betroffene Patienten und deren Angehörige auf, diese neuen Informationen und Warnhinweise bei der Anwendung aller genannten Antidepressiva zu beachten.

Betroffene Produkte:

Atomoxetin, Citalopram, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Mianserin, Milnacipran, Mirtazapin, Paroxetin, Reboxetin, Sertralin und Venlafaxin

Antidepressiva verschlimmern Gesundheitszustand

Psychopharmaka haben einen schlechten Ruf. Seit die Mittel auf dem Markt sind, wachsen nicht nur die Verkaufszahlen, sondern auch die Zweifel daran, dass die Pillen tatsächlich etwas bewirken - außer Nebenwirkungen: Abhängig sollen sie machen, laute Patienten ruhigstellen und die Persönlichkeit verändern.

Jüngster Skandal: Zwei weitverbreitete Antidepressiva sollen für Jugendliche weder wirksam noch sicher sein, schreiben Forscher in einer Studie in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "British Medical Journal". Das besonders Pikante daran: Die Wissenschaftler nahmen sich die Daten einer Originalstudie von 2001 vor, in der die Studienautoren um den mittlerweile emeritierten Martin Keller von der amerikanischen Brown University zu dem Schluss kamen, die Antidepressiva Paroxetin und Imipramin seien "generell gut verträglich und wirksam".

Die Re-Analyse der Daten zeigt nun das Gegenteil: Das Forscherteam aus Großbritannien und den USA konnte zeigen, dass die Mittel Paroxetin und Imipramin bei der Behandlung einer schweren Depression nicht wirksamer als die Gabe eines Scheinpräparates sind und allenfalls einen Placebo-Effekt haben. Obendrein führt die Behandlung mit beiden Medikamenten zu starken Nebenwirkungen. So führte Paroxetin beispielsweise zu Verhaltensauffälligkeiten und Suizidneigung, Imipramin löste Herzrhythmusstörungen aus.

Jahrelanger Streit um Transparenz

Die ursprüngliche Arbeit wurde von Paroxetin-Hersteller GlaxoSmithKline finanziert, der damals noch Smith-Kline-Beecham hieß. Die publizierten Ergebnisse waren von Anfang an umstritten. "BMJ"-Mitherausgeber Peter Doshi geht in einem begleitenden Meinungsbeitrag zur aktuellen Veröffentlichung davon aus, dass die damalige Publikation von einem Ghostwriter geschrieben wurde.

Auch in Deutschland und Europa gab es für die auch hier zugelassenen Mittel zahlreiche Warnungen. Der wissenschaftliche Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) attestierte Paroxetin in einem Risikobewertungsverfahren ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen wie Selbstmordversuch, suizidale Gedanken und Feindseligkeit bei Kindern und Jugendlichen. Die entsprechenden Warnhinweise stehen seit vielen Jahren in der Packungsbeilage.

Im Jahr 2012 war GlaxoSmithKline in den USA zu einer Strafzahlung von drei Milliarden Dollar verdonnert worden. Der Hersteller hatte Paroxetin unter dem Handelsnamen Paxil, das die amerikanische Arzneimittelbehörde (FDA) nur für Erwachsene zugelassen hatte, gezielt an Jugendliche weitergegeben und Gratisproben unter Psychiatern verteilt.

Erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen gab GlaxoSmithKline schließlich die Daten heraus. Das ist vor allem der Initiative RIAT zu verdanken, RIAT steht für "Restoring Invisible and Abandoned Trials". Die Initiative ist ein Zusammenschluss von Forschern, der sich für größere Transparenz in der medizinischen Forschung einsetzt. "BMJ"-Mitherausgeber Doshi hofft, dass "die aktuelle Studie den Druck auf akademische und andere Institutionen erhöht, damit dieses vielfache Fehlverhalten weiter thematisiert wird und Folgen hat."