Trinkwasser gilt als das am besten kontrollierte Lebensmittel Deutschlands. Doch auf Arzneimittelrückstände wird das Wasser nicht systematisch kontrolliert. Es gibt nicht einmal entsprechende Grenzwerte. Die EU will das jetzt ändern.
Ein junger Wissenschaftler nimmt Anfang der 90er Jahre täglich eine Wasserprobe aus der Havel in Berlin und findet keine seltenen Erden wie erhofft, sondern Gadolinium. Das Kontrastmittel verhält sich im menschlichen Körper stabil und wird unverändert ausgeschieden.
Doch dem Nachwuchswissenschaftler Michael Bau war klar: „Wo Gadolinium vorliegt, haben aber auch weitere Arzneimittelrückstände die Klär- und Aufbereitungsanlagen unbeschadet überstanden.“ Heute ist kein Fluss mehr gadoliniumfrei. Im Trinkwasser der Westberliner Bezirke hat Bau es flächendeckend nachgewiesen.
Aus dem jungen Nachwuchswissenschaftler Michael Bau ist mittlerweile ein Professor für Geochemie an der Jacobs University Bremen geworden. „Das Problem bei Kontrollen auf bestimmte Wirkstoffe ist, dass man genau wissen muss, wonach man sucht”, sagt Bau. Solche Kontrollen seien sehr aufwendig und teuer. Problematisch findet der Wissenschaftler außerdem, dass es keine festgelegten Grenzwerte gibt.
Bisher wird Trinkwasser auch nicht regelmäßig auf Arzneirückstände kontrolliert. Ab kommendem Jahr will die EU erstmals überwachen, wie sich bestimmte Medikamentenrückstände in Oberflächengewässern entwickeln – „um sicherstellen zu können, dass sie keine Gefahr für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit darstellen”, wie EU-Umweltkommissar Janez Potocnik in einer Mitteilung erklärte. Auf das Schmerzmittel Diclofenac sowie das natürliche Hormon Estradiol und das in der Antibabypille enthaltene Ethinylestradiol soll das Trinkwasser bald regelmäßig getestet werden.
Die Wirkung von hormonhaltigem Wasser auf den Menschen ist ungewiss. „Es ist schwer, Beschwerden nach Jahrzehnten auf bestimme Ursachen zurückzuführen”, sagt der Chemiker Klaus Kümmerer. Zumindest mit Blick auf die Geschlechtsentwicklung im Mutterleib, Pubertät und Fruchtbarkeit hält er einen Einfluss für möglich. Um vorzusorgen, entwickelt er an der Universität Lüneburg nachhaltige Pharmazie: Solche Wirkstoffe lösen beispielsweise im Wasser keine giftigen Reaktionen aus oder sind schneller abbaubar.
Für die Pharmabranche steht jedoch oftmals allein der kurzfristige Anwendungsnutzen eines Wirkstoffs im Vordergrund. Dabei seien umweltfreundlichere Versionen von Antibiotika oder Krebsmedikamenten durchaus machbar, ist Kümmerer überzeugt.
Um dieses Ziel zu erreichen verändern die Chemiker beispielsweise die Ausgangsmoleküle eines Arzneistoffes so, dass sie später keine giftigen Reaktionsprodukte mehr erzeugen. Beispiele von gut und vollständig abbaubaren Wirkstoffen gebe es schon lange, etwa das Antieptileptikum Valproinsäure. „Im Fall eines Krebsmedikaments konnten wir die Abbaubarkeit in der Kläranlage nicht nur verdreifachen, auch die Wirksamkeit hat sich mit der neuen Struktur vertausendfacht.”
Das Umweltbundesamt (UBA) geht heute von Medikamentenrückständen aus allen Indikationsgruppen in Fließgewässern aus: Schmerzmittel, Betablocker, Antieptileptika oder Hormone etwa. Mehr als 130 Einzelwirkstoffe wurden bislang in deutschen Gewässern nachgewiesen. Nach der Trinkwasseraufbereitung seien maximal noch zehn bis 15 Stoffe zu finden – in sehr geringen Einzelwerten. Dies betont auch Michael Bau: Wirklich giftige Stoffe gelangten meist erst in den Hausleitungen ins Trinkwasser.
„Im Vergleich zu den Zufallsfunden von damals liegen sie heute um ein mehrfaches höher – und dieser Trend setzt sich fort”, sagt Michael Bau. Dabei spiegeln die Trinkwasserwerte lediglich die Belastungen von vor Jahren wider: Bis die Rückstände aus Flüssen ihren Weg durch die Sedimente ins Grundwasser nehmen und durch Brunnen wieder an die Oberfläche gelangen, kann es bis zu zwölf Jahre dauern. „Zu den Spuren von Medikamenten kommen weitere recht neue Stoffe hinzu”, sagt Bau. Rückstände aus Nanotechnologie oder Pflegeprodukten etwa. Selbst Zuckerersatzstoffe aus der Nahrung verarbeitet der menschliche Körper nicht. „Die Risiken sind bislang nicht absehbar.”
Bereits in den 1970er-Jahren wurden vereinzelt Fibrate, Antibiotika, Antiepileptika oder Estrogene in verschiedenen Seen und Flüssen gefunden. Manche Arzneistoffe wie Carbamazepin widerstehen dem Klärprozess und tauchen im Abwasser der Kläranlagen auf. Die Verordnungsmengen werden zu fast 100 Prozent in die Umwelt abgegeben, teils unverändert, teils als aktive Metabolite.
Dass Medikamente ins Abwasser gelangen, ist ein ungewollter Nebeneffekt ihrer therapeutischen Anwendung. Arzneistoffe werden auf Stabilität optimiert, damit genügend intakte Wirkstoffmoleküle in vivo am Krankheitsort ankommen, bevor sie metabolisiert werden. Diese Stabilität der Moleküle erschwert ihren biologischen Abbau in den Kläranlagen. Zudem binden sie sich kaum an andere Partikel, sodass die erste Stufe des Klärprozesses, die mechanische Reinigung, wenig effektiv ist.
Die Hauptquelle für das Vorkommen von Arzneistoffen in der Umwelt bildet das häusliche Abwasser. Herstellungsbetriebe für Arzneimittel, Krankenhäuser oder andere medizinische Einrichtungen spielen in westlichen Ländern dagegen eher eine geringe Rolle. Dazu erklärt Dr. Wolf von Tümpling vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig: „Die Arzneimitteltherapie hat sich zunehmend in den ambulanten Sektor verlagert. Damit wird der Eintrag von Medikamenten in die Gewässer dezen¬tralisiert. Die Abwässer von Krankenhäusern können separat einer Spezialbehandlung unterzogen werden. Verteilen sich Arzneimittel über kommunale Abwässer, ist das so nicht möglich.“
Auch in Flüssen, Seen und Teichen treffen Forscher auf Spuren von Arzneimitteln, sei es im Victoriasee oder der Wolga, im Mississippi oder Main, in der Rhône oder im Rhein. Diclofenac und Ibuprofen, Carbamazepin, Roxithromycin und Sulfamethoxazol sowie Metoprolol und Sotalol wurden in nahezu allen Flüssen und Seen gefunden, allerdings in Konzentrationen im Nano- bis Mikrogrammbereich. Besonders belastet sind kleine Flüsse und Kanäle in dicht besiedelten Gebieten mit einem hohen Abwasseranteil.
Von den Flüssen und Seen, aber auch über durch Tierarzneimittel belastete Böden können Arzneistoffe ins Grundwasser und von dort ins Trinkwasser gelangen. Anfang der 1990er-Jahre wurde in Berliner Trinkwasserquellen Clofibrinsäure entdeckt, vor vier Jahren Carbamazepin im Trinkwasser des Berliner Reichstags. Inzwischen wurden fünfzehn verschiedene Arzneistoffe in deutschen Trinkwasserproben nachgewiesen. Die gemessenen Konzentrationen sind mit wenigen Nanogramm pro Liter deutlich niedriger als im Oberflächen- und Grundwasser.
Meldungen über Arzneimittelspuren in den verschiedenen Gewässern überraschen den Berliner Ökotoxikologen Werner Kloas nicht. „Die Umweltforschung hat Tausende von Messungen in den vergangenen zehn Jahren durchgeführt. Vermutlich könnte man wohl nahezu alle Arzneistoffe entdecken, wenn man extrem feine Analysemethoden nutzen würde“, sagt Kloas. „Zwanzig bis dreißig Substanzen treffen wir jedoch fast überall an – in Konzentrationen von 10 bis 10000 ng pro Liter.“
Schätzungsweise vier Fünftel der rund 10 000 Oberflächengewässer in Deutschland sind in gutem chemischen Zustand, berichtete das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) im Juni 2011. Doch nur 10 Prozent erfüllen auch die Kriterien der Europäischen Rahmenrichtlinie (WRRL) für einen guten ökologischen Stand. Der chemische Status von Gewässern wird anhand von 41 Stoffen überwacht, die einen festgelegten Grenzwert nicht überschreiten dürfen. Darunter sind bislang keine Arzneistoffe, sondern industriell eingesetzte Chemikalien und Pflanzenschutzmittel. Zurzeit wird allerdings erwogen, in die Prüfliste auch einige Arzneistoffe aufzunehmen. „Wenn auch Arzneistoffe in ein intensives Monitoring eingeschlossen werden, erfahren wir mehr über langfristige Auswirkungen auf die aquatische Umwelt“, erläutert Helmholtz-Wissenschaftler von Tümpling.
Ökotoxikologische Studien liegen erst für wenige Substanzen vor. Ob und wie Arzneimittelspuren die aquatische Umwelt langfristig gefährden, ist auch aufgrund von „Cocktaileffekten“ schwierig einzuschätzen. Fauna und Flora sind meistens mehreren Arzneistoffen sowie anderen Chemikalien gleichzeitig ausgesetzt. Wie dies in der Risikobewertung berücksichtigt werden könnte, ist noch unklar.
Abbauprodukte von Arzneistoffen, die im menschlichen Körper oder in der Kläranlage entstehen, erschweren die Einschätzung zusätzlich. Zudem sind der Arzneistoff selbst und seine Metabolite in der Umwelt zahlreichen Einflüssen ausgesetzt: Bakterien und Pilze verändern ihn ebenso wie Luftsauerstoff, Licht und Wasser. „Die so entstehenden Transformationsprodukte sind neue Substanzen mit neuen Eigenschaften, die wir weiter untersuchen und in ihren Langzeitauswirkungen beobachten müssen“, berichtet von Tümpling.
Das Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV) bewertete 2007 in einer umfangreichen Literaturstudie den aktuellen Wissensstand zum Verhalten von Arzneimitteln in der Umwelt. Sieben Arzneistoffe stuften die Wissenschaftler hinsichtlich ihrer ökotoxikologischen Wirkungen als umweltrelevant ein: die Antibiotika Ciprofloxacin, Clarithromycin, Erythromycin und Sulfa¬meth¬oxazol, Diclofenac, Carbamazepin und 17α-Ethinylestradiol.