Hirndiabetes: Ist Alzheimer eine neue Form von Zuckerkrankheit? (1)

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Wissenschaft die Verbraucher in einen Irrgarten voller Ratschläge und Tipps geschickt. Doch viele Teile ergeben nicht unbedingt ein Ganzes. Es ist an der Zeit, neu über Ernährung nachzudenken. Es ist wohl so, dass jegliche Wissenschaft uns ein Füllhorn von Informationen liefert. Jede neue Dissertation liefert wissenschaftliche Details, wir wissen dann über wenig immer mehr. Und diese Aussage gilt nicht nur für die Wissenschaft der Ernährung. Medien tun ein Übriges: Sie picken sich aus der Flut von Forschungsergebnissen solche Teile heraus, die man mit einer "mediengerechten" und meist negativen Schlagzeile versehen kann, um die Auflage zu verstärken. Unzählige und unwirksame Diäten sind ein bekanntes Beispiel für diesen Trend.

Essen ist ein entscheidender Teil der menschlichen Existenz. Möglichst viel darüber herauszufinden beschäftigt eine ganze Forschungsindustrie - und produziert massenhaft Ergebnisse. Aber nur in Ausnahmefällen finden sich darunter welche, aus denen die Menschheit etwas lernen könnte. Eine dieser seltenen Ausnahmen betrifft zwei große Zivilisationskrankheiten: Diabetes und Alzheimer. Beide belasten die öffentlichen Gesundheitssysteme schon heute massiv. Und wenn die Annahmen zur Entstehung von Alzheimer stimmen, ist das erst der Anfang. Alzheimer als dritte Form von Diabetes - das ist nur auf den ersten Blick eine steile These. Selbst wenn sich die Forschung noch vor allem auf Tierversuche stützt, liefert sie doch zwingende Hinweise - und ein Konzept, das umfassend und auf den ersten Blick einleuchtend ist.

Die Ernährungswissenschaft dagegen hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Kleinteiliges produziert und die Verbraucher in einen Irrgarten voller Ratschläge und Tipps geschickt. Eine Konsolidierung der Erkenntnisse tut not, denn wir ahnen längst, dass etwas mit unserem Essen nicht stimmt. Dass es nicht auf einzelne Nährstoffe ankommt. Dass Bio keine Lösung ist. Dass die Verantwortung auf viele Schultern verteilt ist: auf die Industrie, die Lebensmittel so verarbeitet, dass unser Stoffwechsel nicht mit ihnen fertig wird. Auf die Konsumenten, die Nahrung mit Fruktosesirup und Billigfett kaufen. Auf die Politiker, die zu viel für die Wirtschaft tun und zu wenig für die Verbraucher.

Und auch auf die Wissenschaft. Sie hat es versäumt, Ernährung als ganzheitliches System zu betrachten, in dem Ursache und Wirkung oft auf verschlungenen Wegen miteinander verknüpft sind. Diabetes erhöht das Risiko für Alzheimer. Schlechte Ernährung erhöht das Risiko für Diabetes. Die Zahl der Diabetiker wächst, die der Alzheimer-Kranken auch. Und die kleinsten gemeinsamen Nenner sind Fast Food und industriell verarbeitete Nahrung. Es ist Zeit, auch für die Forschung, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Ich habe in den letzten Tagen einige Informationen zu Alzheimer und der neu angedachten Einordnung als Diabetes Typ 3 zusammengestellt. Lesen Sie heute Teil 1 meiner Recherchen.

EU erteilt Freibrief für unsinnigen Fructose-Zusatz in Lebensmitteln

Gemäß der EU- Health-Claims- Verordnung ist seit Jahresbeginn eine gesundheitsbezogene Werbeaussage zu Fruchtzucker (Fructose) erlaubt. “Der Verzehr von Lebensmitteln, die Fructose enthalten, führt zu einem geringeren Glucoseanstieg im Blut im Vergleich zu Lebensmitteln, die Saccharose oder Glucose enthalten”, so darf es heißen. Die Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein verurteilt dies aufs Schärfste. Völlig zu recht.

Diese Aussage richtet laut Auffassung der Verbraucherzentrale den Blick einseitig auf den einzigen Vorteil dieses Zuckers und blendet erwiesene Nachteile völlig aus. Zumal mit dieser Aussage keineswegs natürliche Lebensmittel wie Obst oder Gemüse beworben werden, sondern Produkte, denen dieser Zucker in einer bestimmten Menge zugesetzt wird. Denn weiter heißt es in der Verordnung:

“Damit die Angabe zulässig ist, sollte in zuckergesüßten Lebensmitteln oder Getränken Glucose und/oder Saccharose durch Fructose ersetzt werden, so dass die Verringerung des Glucose- und/oder Saccharosegehalts in diesen Lebensmitteln oder Getränken mindestens 30 % beträgt.”

Damit wird der Zusatz von Fructose – meist gewonnen aus billigem Maissirup – in Getränken und Lebensmitteln gefördert. Gesundheitliche Nachteile sind zu befürchten. Unverträglichkeitsreaktionen bei hoher Fruchtzuckeraufnahme nehmen zu, Blähungen und Durchfall sind die Folge. Die Harnsäurebildung und damit das Risiko einer Gichterkrankung kann steigen. Vor allem aber kann Fructose negative Auswirkungen auf Blutfettwerte, Leberverfettung und Gewichtszunahme haben.

Der Zweck dieser Verordnung, Verbraucher vor unsinnigen gesundheitsbezogenen Werbeaussagen zu schützen, wird zunehmend in das Gegenteil verkehrt. Fruchtzucker ist gut, solange wir ihn im natürlichen Verbund aus Früchten oder Gemüse aufnehmen, dann ist eine Überversorgung nahezu ausgeschlossen. Der weit verbreitete Zusatz von Fruchtzucker in Süßwaren, Getränken und Fertigprodukten ist aus vielerlei gesundheitlichen Gründen nicht zu befürworten. Gerade dies wird durch die nun erlaubte Werbeaussage gefördert, so die Befürchtung der Verbraucherzentrale.

Vor dem Hintergrund, dass von fast fünftausend von der Industrie beantragten gesundheitsbezogenen Werbeaussagen bisher nur knapp 5% erlaubt sind, ist für die Verbraucherzentrale völlig unverständlich, wie ausgerechnet diese Aussage eine Zulassung erreicht hat. Verbraucherinnen und Verbrauchern wird geraten, sich nicht von dieser gesund klingenden Werbeaussage verführen zu lassen, das gilt vor allem auch für Diabetiker. Lesen Sie mehr darüber im nächsten Absatz.

Quelle: Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein

Futter fürs Gedächtnis - Die Wirkung von Fructose auf Ratten

Manche Lebensmittel sind schlecht für unser Gehirn. Vor allem Nahrung, die viele gesättigte Fettsäuren und Zucker enthält oder einen hohen sogenannten glykämischen Index hat, erzeugt schnell einen sehr hohen Insulinspiegel - mit bösen Folgen.

Eine Studie der University of California in Los Angeles hat gezeigt: Wenn sich Ratten von Fruktose ernähren, entwickeln sie schon nach sechs Wochen Lern- und Gedächtnisprobleme, ihr Gehirngewebe reagiert kaum noch auf Insulin. Der meist aus Mais gewonnene Sirup kommt vor allem in Softdrinks, Gewürzmitteln und vielen industriell stark verarbeiteten Nahrungsmitteln vor.

Andere Nahrung könnte dagegen einen gewissen Schutz bieten. So hatten Ratten, die zusätzlich zum zuckerhaltigen Wasser Leinsamenöl zu sich nahmen, keine kognitiven Probleme (Journal of Physiology, doi.org/jkt). Ähnliche Fettsäuren wie in dem Öl finden sich auch in fettem Fisch.

Spekuliert wird noch darüber, ob bestimmte Pflanzenstoffe das Demenzrisiko senken, beispielsweise Flavonoide, die sich in Tee, Rotwein und dunkler Schokolade befinden.

Sie könnten erklären, warum die Mittelmeerdiät zu weniger Demenz und Alzheimer-Erkrankungen führt. Sie besteht aus viel Fisch, pflanzlichem Öl, Gemüse und Früchten mit einem niedrigen glykämischen Index sowie moderaten Mengen Rotwein. Verarbeitete Lebensmittel spielen kaum eine Rolle (Current Alzheimer Research, Band 8, Seite 520).

Drei Varianten des Diabetes

Typ 1: Rund fünf Prozent aller Menschen, die an der Zuckerkrankheit leiden, haben Typ-1-Diabetes. Weil er meist bei Kindern oder Jugendlichen auftritt, spricht man auch vom jugendlichen Diabetes. Eine Autoimmunreaktion zerstört die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse, der Körper kann den Blutzuckerspiegel nicht regulieren. Seit Insulin biotechnisch hergestellt wird, führen die meisten Typ-1-Diabetiker ein normales Leben.

Typ 2: Die häufigste Form von Diabetes entsteht entweder, weil eine altersschwache Bauchspeicheldrüse nicht mehr genug Insulin produziert. Oder weil die Zellen das Hormon ignorieren und keinen Zucker aus dem Blut schöpfen. Insulinresistenz führt zu hohen Insulinkonzentrationen und einem hohen Blutzuckerspiegel - und erhöht das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Erblindung, Nervenschäden und Amputationen. Übergewicht, vor allem Bauchfett, steigert das Risiko für Typ-2-Diabetes.

Typ 3: Die Theorie eines dritten Typs stammt von der Medizinerin Suzanne de la Monte. Gemeinsam mit einer wachsenden Zahl anderer Wissenschaftler ist sie überzeugt, dass Alzheimer und Diabetes eng zusammenhängen. Ihrer Theorie zufolge entsteht die Demenz, wenn Gehirngewebe resistent gegenüber Insulin wird. Die Form entspricht einem Typ-2-Diabetes, der vor allem das Gehirn betrifft.

51 Prozent der Deutschen sind übergewichtig und haben ein erhöhtes Diabetesrisiko

Die Ratten von Suzanne de la Monte waren völlig verwirrt. Die Tiere sollten durch ein Wasserlabyrinth schwimmen, das häufig für Gedächtnistests an Labornagern benutzt wird. Aber die Tiere wussten überhaupt nicht mehr, wo sie waren oder wie sie auf die verborgene Rettungsplattform kommen sollten. Stattdessen ruderten sie ziellos herum. „Sie waren dement. Sie konnten nichts lernen und sich an nichts erinnern", sagt de la Monte, Neuropathologin an der Brown University in Providence, Rhode Island.

Als die Forscherin schließlich die Gehirne der Ratten untersuchte, blickte sie auf ein Trümmerfeld: Die Hirnregionen, die für das Gedächtnis verantwortlich sind, waren übersät mit hellen, rosafarbenen Ablagerungen wie Griffe an einer Kletten wand. Viele Neuronen waren zum Bersten mit giftigen Proteinen gefüllt, kollabiert oder in Auflösung begriffen. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen verschwanden: Veränderungen wie sie für eine Alzheimer-Erkrankung typisch sind. Hier traten die Schäden allerdings unter ungewöhnlichen Umständen auf. Denn die Ratten waren nicht alt. De la Monte hatte nur die Art und Weise gestört, wie das Gehirn der Tiere auf Insulin reagiert.

Das Hormon Insulin dient vor allem dazu, den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Es spielt aber zugleich eine entscheidende Rolle in der Signalübertragung im Gehirn. De la Monte hatte den Weg des Insulins zu den Gehirnzellen der Ratten unterbrochen. Das Resultat: Demenz.

Eine geringe Empfindlichkeit gegenüber Insulin ist typisch für Diabetes vom Typ 2, auch Alterszucker genannt. Vor allem Leber-, Fett- und Muskelzellen reagieren dann nicht mehr richtig auf das Hormon. Eine Reihe von Forschungsergebnissen, die denen von de la Monte ähneln, haben Wissenschaftler inzwischen auf die Idee gebracht, dass Alzheimer eine andere Form von Diabetes sein könnte - eine, bei der statt der Leber oder der Muskeln eben das Gehirn nicht mehr auf Insulin reagiert. Manche Forscher nennen die Krankheit sogar schon Typ-3-Diabetes.

Falls sie richtigliegen - und es sieht zunehmend danach aus -, wäre das besorgniserregend. Denn vor allem kalorienreiche Nahrungsmittel dämpfen die Reaktion des Körpers auf Insulin. Jeder Burger und jede Portion Pommes frites wären dann nicht nur Gift für das Körpergewebe, sondern auch für das menschliche Gehirn. Typ-2-Diabetiker, die ja bereits eine Insulinresistenz entwickelt haben, müssten besonders gefährdet sein. „Wenn sich die Epidemie des Typ-2-Diabetes mit dieser Geschwindigkeit weiterentwickelt, folgt ihr wahrscheinlich eine Epidemie an Demenzerkrankungen", sagt Ewan McNay von der University at Albany in New York. „Das wäre eine gewaltige Herausforderung für die Gesundheits- und Sozialsysteme."

1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind bereits an Alzheimer erkrankt.

Wer sein Risiko senken will, an Demenz zu erkranken, für den könnten eine vernünftige Ernährung und regelmäßige Bewegung künftig also noch wichtiger werden. Zugleich könnte es möglich sein, gewisse kognitive Beeinträchtigungen von Alzheimer-Kranken wieder rückgängig zu machen oder den geistigen Niedergang zumindest zu verzögern - indem die Forscher die zugrunde liegende Insulinresistenz ins Visier nehmen. So ließen sich möglicherweise neue Behandlungswege für eine Krankheit beschreiten, die sich bis jetzt jeder Therapie entzieht.

Ein neuer Erklärungsansatz für die Alzheimer-Krankheit kann gar nicht früh genug kommen: Rund 1,3 Millionen Erwachsene in Deutschland leiden an der Erkrankung; im Jahr 2050 werden es nach Schätzungen des Bundesfamilienministeriums doppelt so viele sein. Weltweit sind 36 Millionen Menschen erkrankt, und es werden allein schon deshalb immer mehr, weil die Gesamtbevölkerung wächst. „Wir suchen verzweifelt nach einer wirkungsvollen Therapie", sagt John Morris, Neurologe an der Washington University School of Medicine in St. Louis, der sich auf die Alzheimer-Demenz spezialisiert hat.