Chemische Gewalt gegen Senioren (Teil 3)

Heute bekommen Sie Teil 3 unserer kleinen Serie über den Einsatz von Psychopharmaka in Seniorenheimen. Ich möchte versuchen, Ihnen zu beschreiben, weshalb wohl niemand verantwortlich ist (oder scheint) und mit Änderungen am System wohl kaum zu rechnen ist.

Es fällt mir manchmal sehr schwer, Worte für diese Dinge zu finden. Manchmal möchte ich laut aufschreien, doch das hilft ja leider nicht. Und manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt etwas ändern kann und es einfach bleiben lassen sollte, mühsam nach einigermaßen ausgewogenen Worten zu suchen. Im Grunde stellt sich ja eigentlich die Frage, warum die Anzahl der Demenzfälle in den letzten Jahren so explosionsartig gestiegen ist. Und dann stelle ich mir die Frage, warum wir nicht mehr darüber diskutieren, die Fälle von Demenz überhaupt zu vermeiden. Ich suche dann nach solchen Konzepten und finde wieder keine befriedigenden Antworten. Man sollte vermuten, dass es Forschung in diesem Bereich gibt, denn wir haben es mit einem zentralen Problem einer immer älter werden Gesellschaft zu tun. Ich habe bei meinen Recherchen wenig bis nichts Brauchbares gefunden.

Vielleicht haben Sie liebe Leser einen Anhaltspunkt dafür, was man tun kann, um nicht selbst irgendwann ein Betroffener zu sein? Schreiben Sie mir bitte.

Fast nie strafrechtliche Konsequenzen

Obwohl solche Fälle laut Experten in Deutschland alltäglich sind, haben sie fast nie strafrechtliche Konsequenzen. Die Erfolgsaussichten sind einfach zu gering. In Berlin etwa schaltete der lokale Krankenkassenverband (heute VdeK) vor fünf Jahren die Staatsanwaltschaft ein, weil Pfleger eines Heims einer Bewohnerin absichtlich Beruhigungsmittel verabreicht haben sollen, um sie ruhigzustellen, und das Heim dann eine höhere Pflegestufe beantragte. Die Ermittlungen wurden ohne Ergebnis eingestellt.

Im Fall von Frau S. erreichte die Tochter bei der Heimaufsicht, dass die Pflegestufe ein drittes Mal überprüft wurde – diesmal, ohne dass sich der MDK wie sonst üblich vorher anmeldete. Das Ergebnis: Die Mutter wurde in Pflegestufe 2 zurückgestuft.

Das Haus „Am Brunnen“ und die Senioren Wohnpark Weser GmbH gehören zur Residenz-Gruppe Bremen. Der Gründer und geschäftsführende Gesellschafter Rolf Specht ist einer der bekanntesten Unternehmer in der Region und ein wichtiger Arbeitgeber.

Seine Gruppe hat rund 1100 Mitarbeiter und ist eine der 20 größten Pflegeketten Deutschlands. Im Gegensatz zu vielen anderen Pflegemanagern spricht Specht mit der Presse. Gemeinsam mit seiner Sprecherin, seinem Konzerngeschäftsführer Christian Nitsche und dem Heimleiter empfängt er die Presse im Heim in Stuhr-Brinkum.

Die Verantwortung tragen die behandelnden Ärzte

Dem Vorwurf im Fall von Frau S. widersprechen die Manager entschieden. Nitsche sagt, dass über eine Höherstufung nicht ein einzelner Begutachtungstag entscheide, sondern eine Dokumentation über mehrere Monate. Medikamente würden nie mit dem Ziel einer Höherstufung gegeben, sondern stets aus „pflegerisch oder medizinisch indizierten Gründen“.

Es gebe in der Pflege nun einmal Fälle, in denen es den Menschen in Wellenbewegungen mal schlechter gehe und dann wieder etwas besser. Daraus einen Vorwurf abzuleiten werde der Pflege in der Einrichtung nicht gerecht. Was der Geschäftsführer keinesfalls auf sich beruhen lassen will, ist der Vorwurf, die Patientin sei gezielt außer Gefecht gesetzt worden, um die Höherstufung zu erreichen.

„Ein solches Vorgehen wäre ungesetzlich und ethisch undenkbar.“ Es ergäbe auch logisch keinen Sinn: „Die dokumentierte Pflegebedürftigkeit reicht in der Regel für eine erfolgreiche Höherstufung aus. Die Schaffung strafbarkeitsrelevanter Sachverhalte mit einem großen Kreis von Mittätern und Mitwissern stehen in keinem Verhältnis zu dem hierdurch verursachten Schaden in der Reputation des Unternehmens.“

Frau T. entgegnet darauf später: Die Tatsache, dass ihrem Widerspruch stattgegeben wurde – was Dokumente belegen –, sei Beweis genug. Der MDK habe sogar die Rückstufung dringend empfohlen.

Auf die Frage, ob nicht schon das Ruhigstellen demenzkranker Bewohner mit Medikamenten allein schlimm genug sei, schütteln die drei Männer und die Pressesprecherin entschieden die Köpfe. „Bei uns kommt das nicht vor“, sagt der Heimleiter. Was verschrieben werde, liege allein in der Hand des behandelnden Arztes. Gleichwohl räumt Nitsche ein: „Dort, wo Menschen arbeiten, geschehen Fehler – es ist unsere Aufgabe, diese Beschwerden ernst zu nehmen und den erhobenen Vorwürfen nachzugehen.“

Die Liste der verordneten Mittel ist lang ...

Die Liste der Mittel, die auf deutschen Demenzstationen tagtäglich in die Pillenboxen kommen, ist lang: Melperon, Pipamperon und Diazepam gehören zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten.

Zwei Produktnamen fallen jedoch besonders häufig im Gespräch mit Pflegeexperten: Haldol und Risperidon.

... und die Nebenwirkungen sind bestens bekannt

Beides sind offenbar für Senioren problematische Stoffe: Anfang 2011 erstellte eine Forschergruppe der Universität Witten/Herdecke eine Liste mit einer Übersicht, auf welche Medikamente alte Menschen empfindlicher reagieren als jüngere. Die Verfasser der sogenannten Priscus-Liste wollten Ärzten eine Anleitung an die Hand geben, an der sie sich bei Verschreibungen in Altenheimen orientieren können.

(hier noch einmal mein Angebot an Sie: schreiben Sie mir eine Emali, dann sende ich Ihnen die Priscus-Liste zu)

Dort ist zum Beispiel zu lesen, dass der Wirkstoff Haloperidol, der in Haldol steckt, bei älteren Patienten schon in üblichen Dosierungen heftige Nebenwirkungen auslösen kann: Die sedierende Wirkung kann zu Stürzen und damit Hüftbrüchen führen, die Motorik wird stark beeinträchtigt.

Der Wirkstoff ist seit den 70er-Jahren auf dem Markt. Entwickelt hat ihn Janssen-Cilag, eine Tochter des US-Pharmakonzerns Johnson & Johnson, und laut aktuellem Arzneimittelverordnungsreport stammte fast die Hälfte aller 2010 verordneten Einheiten vom Original-Hersteller.

Noch häufiger wird heute die Nachfolgesubstanz Risperidon – Produktname Risperdal – verordnet, ebenfalls hergestellt von Janssen-Cilag. Sie ist weit teurer, soll aber Pharmakritikern zufolge keinerlei Zusatznutzen bringen. Eine tägliche Dosis Risperdal kostet die Kassen allerdings 14,14 Euro, die Tagesdosis Haldol nur 62 Cent.

Eigentlich sind beide Mittel für Schizophrene und Patienten mit schweren Psychosen entwickelt worden. Mittlerweile, behauptet ein ehemaliger Vertriebsmitarbeiter des Unternehmens im nordrhein-westfälischen Neuss, soll Janssen-Cilag aber einen großen Teil seines Haldol- und Risperdal-Umsatzes – rund 4,8 Millionen Euro insgesamt – mit pflegebedürftigen Senioren erzielen.

Natürlich tragen auch die Pharmas keine Verantwortung, oder?

Das Unternehmen teilt mit, ein Pharmahersteller könne keinen Einfluss darauf nehmen, für welche Indikation ein Arzt ein Medikament verschreibe. Janssen-Cilag weise die Ärzte jedoch darauf hin, dass die Verschreibung bei Demenzkranken ein gewisses Risiko berge. Tatsächlich steht im erweiterten Beipackzettel, den Ärzte bekommen, ein Absatz mit der Überschrift „Erhöhte Mortalität bei älteren Menschen mit Demenz-Erkrankungen“.

Auch die Mutter von Frau W. bekam vor ein paar Jahren Haldol verschrieben, und die Tochter sagt heute, die Mutter wäre daran fast gestorben. „Totaler Zusammenbruch“, erinnert sie sich. Die Zahl der Patienten, deren Tod durch Psychopharmaka beschleunigt wird, kennt niemand. Im Altenheim, sagen Pharmakritiker wie der emeritierte Bremer Arzt Peter Schönhöfer, der sich bei Transparency International engagiert, werde meist nicht sehr genau auf die Todesursache geachtet. „Das gilt insbesondere, wenn der Tod als Erlösung von einem langen Leiden erscheint.“

Der Verband der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) weist für seine Mitglieder jede Verantwortung von sich. „Über den Einsatz verschreibungspflichtiger Medikamente im konkreten Einzelfall entscheidet der jeweilige Arzt. Diesen kann und darf ein Pharmaunternehmen nicht beeinflussen“, sagt vfa-Referent Rolf Hömke.

Oder vielleicht doch, aber nur indirekt und ganz wenig?

Experten bezweifeln jedoch, dass die Industrie den Einsatz von Psychopharmaka bei Demenzkranken tatsächlich so entschieden ablehnt. Kritiker Schönhöfer sagt, dass zum Beispiel Neurologen, die viele Altenheime betreuen, häufig Besuch von den Herstellern einschlägiger Psychopharmaka bekommen. „Natürlich wissen auch die Pharmavertreter, dass die Mittel zum Sedieren eingesetzt werden“, sagt er.

In der Dreiecksbeziehung Pharmavertreter, Arzt und Altenheimbetreiber werde das Phänomen schöngeredet. „Man überzeugt sich gegenseitig, dass alle Seiten vom Ruhigstellen profitieren.“ Das bestätigt auch ein Pharmareferent, der lange im Bereich geriatrischer Präparate gearbeitet hat: „Es gibt einige Ärzte, die sind in ihrem Landkreis kleine Fürsten und haben quasi ein Monopol bei den Heimen. An die wollen die Pharmafirmen natürlich ran.“

Alle medizinischen Fachbereiche, die einen hohen Anteil an alten Patienten behandeln , sind interessant für die Pharmakonzerne. Wer alt ist, schluckt viele Pillen. Laut einer Auswertung des GKV-Spitzenverbandes entfielen 2010 vom gesamten Fertigarzneimarkt 44 Prozent auf Versicherte ab 65 Jahren.

Vor einigen Monaten machte in der Ärzteschaft ein Eintrag im Internetblog Gesundheit.blogger.de die Runde, dessen anonymer Verfasser zum ersten Mal die Abhängigkeiten in der Psychiatrie unter die Lupe nahm. Anlass war die „Demenz-Leitlinie“ der beiden neuropsychiatrischen Fachgesellschaften DGPPN und DGN.

Das Papier, das Neurologen als Behandlungsanleitung dienen soll, spricht sich deutlich für Antidementiva aus – umstrittene starke Medikamente, die von der Hausärzte-Fachgesellschaft Degam kritisch beurteilt werden. Alle 68 Unterzeichner der Richtlinie gaben an, in keiner Weise von der Pharmaindustrie abhängig zu sein. Der Blogger mit dem Pseudonym Hockeystick prüfte dies mit einer einfachen Google-Suche nach. Ergebnis: 29 der Experten hatten sich mindestens einmal von einem Pharmaunternehmen für einen Marketingauftritt bezahlen lassen, häufig sogar von Antidementiva-Herstellern.

Doch auch Patientenorganisationen seien vor Einflussnahmen nicht gefeit, sagt die Pflegewissenschaftlerin Gabriele Meyer von der Universität Witten/Herdecke. Laut einer Aufstellung des Instituts für Qualität und Transparenz von Gesundheitsinformationen (IQTG) soll beispielsweise die Deutsche Alzheimergesellschaft im Jahr 2010 für Veranstaltungen rund 42.000 Euro an Zuwendungen von der Pharmaindustrie erhalten haben. Unter den Spendern: Janssen-Cilag, Eisai, Pfizer – alles Firmen, deren Mittel in deutschen Altenpflegeheimen tagtäglich zum Einsatz kommen.