Chemische Gewalt gegen Senioren (Teil 2)

Nach fast allen meinen Gesundheitsbriefen bekomme ich zustimmende oder kritisierende Emails. Die Anzahl der Emails zum aktuellen Thema zeigt mir, dass ich ein Thema gewählt habe, welches sehr wohl auf ein breites Interesse trifft.

Ich möchte Ihnen aber zunächst die Teile 2 und 3 zusenden, bevor ich mich dann mit diesen Emails auseinandersetze. Hier sei zunächst nur so viel gesagt:

Viele Leser schreiben mir: Wir haben doch keine Alternative zur "Ruhigstellung" von Patienten. Meine Frage an Sie: Rechtfertigt die schwierige Situation der Pfleger und der Senioren die (Zwangs)Medikation mit Psychopharmaka? Erfüllt das nicht den Tatbestand der Körperverletzung? Reicht Renitenz aus, einen ansonsten wehrlosen Menschen gegen seinen Willen mit nebenwirkungsreichen Pillen vollzustopfen? Es gibt genügend Richter, die diese Frage mit "Ja" beantworten. Darüber möchte ich gern berichten und auch mit Ihnen kommunizieren. Schreiben Sie mir. Denn Ihre Meinung ist mir wichtig.

Pfleger sind restlos überfordert

Wenn man Einblick über die Behandlungspraxis in manchen Heimen und Krankenstationen bekommen will, sind Internetforen wie www.Krankenschwester.de oder www.Pflegeboard.de hilfreich – auch wenn sie nicht repräsentativ sind. Der User „Anne77“ schreibt dort beispielsweise: „Zur Zeit stellen unsere Ärzte renitente Patienten mit Paracefan ruhig. Für mich ehrlich gesagt erleichternd, da ich nun keinen Fluchtversuch befürchten muss sowie Handgreiflichkeiten. (…) Wie ist das bei euch? Medikamentös ruhigstellen oder eher Fixierung?“

Ein Nutzer antwortet, in seinem Haus werde die Ruhigstellung (Sedierung) stets mit einer Fixierung des Patienten in seinem Bett kombiniert. In einem anderen Beitrag fragt Nutzer „Patmuc“: „Gibt es noch den Cocktail aus Dipi und Haldol, der jeden Nachtdienst froh macht?“ Eine Nutzerin antwortet: „In dem Altenheim, wo ich war, hieß das Zauberwort Tavor.“

Im klammen deutschen Gesundheitswesen ist die Personaldecke vieler Heime auf Kante genäht. Der Altenpflegejob zerrt an den Nerven. Laut einer Studie sind 42 Prozent aller Pfleger mehrmals am Tag mit „herausforderndem Verhalten“ der Pflegebedürftigen konfrontiert. Um sich zu helfen, verabreichten manche Pfleger Beruhigungsmittel ohne Verschreibung, erklärt Professor Hirsch.

Sie gäben den Senioren zum Beispiel Pillen, die von Verstorbenen übrig sind, und dokumentierten dies nicht in der Patientenakte. Viel häufiger aber rufen sie den Hausarzt oder Neurologen, schildern ihm ihre Sicht der Lage – dass Herr Schmitz unter schlimmen Angstzuständen leidet oder Frau Müller nachts einfach nicht zur Ruhe kommt – und lassen den Heimbewohnern immer neue Mittel verschreiben. Für mich ist das alles Körperverletzung, denn die Heimbewohner haben wohl kaum zugestimmt und auch die Betreuer wissen davon meist nichts.        

Für Senioren bedenkliche Medikamente

In Mönchengladbach veröffentlichte die städtische Sozial Holding, die sechs Heime betreibt, im Herbst 2011 eine Studie, die in der Branche für Aufsehen gesorgt hat. Demnach bekamen die 617 Bewohner in einem Monat zusammen Medikamente für 5000 Euro verschrieben, die für ältere Patienten als bedenklich gelten. Im Durchschnitt bekamen die Bewohner mehr als acht verschiedene Mittel täglich, besonders oft Psychopharmaka.

Eine wahnwitzige Verschwendung der Pflegekassen sei das, sagt der Geschäftsführer der Sozial Holding, Helmut Wallrafen-Dreisow: „Es kann doch nicht sein, dass wir seit Jahrzehnten für eine Verbesserung der Personalschlüssel kämpfen und auf der anderen Seite sinnlose, kostenintensive und teilweise gesundheitsgefährdende Medikamente verordnet und verabreicht werden.“ Für ihn sind letztlich die Kassen verantwortlich, die Verschreibungen kaum kontrollierten.

Auch Sozialforscher Glaeske kritisiert die mangelnde Kontrolle: „Die Pfleger müssen von den überlasteten Pflegekassen bezahlt werden, die Medikamente dagegen von den Krankenkassen. Die massenhafte Sedierung ist letztendlich eine Kostenverschiebung von einem Sozialsystem ins andere.“ Die Hauptverantwortung liege jedoch bei den in den Heimen behandelnden Ärzten.

Der Wissenschaftler spricht von einer „verhängnisvollen Komplizenschaft“

„Die Ärzte sehen die Not der Pfleger, manchmal auch die der Angehörigen, die mit dem eigenen Vater nicht mehr fertig werden, und entwickeln daraus eine Legitimation für ihr Handeln.“ Gerade in ländlichen Gegenden mit Ärztemangel ist oft ein Neurologe für alle Altenheime im Landkreis zuständig. Aber ist das eine ausreichende Legitimation für massenhafte Körperverletzung an Senioren, die sich nicht wehren können? Sollte der Arzt als Legitimation seines Handelns nicht eher die gesundheitliche Integrität seines Patienten beachten?

Das kann sich für den Arzt lohnen: In einem Pflegeheim sitzen viele Patienten auf einem Fleck, man kann in kurzer Zeit viele Menschen behandeln und bei der Kasse abrechnen. Wer sich mit dem Heimpersonal gut stellt, wird beim nächsten Mal wieder angerufen.

Psychopharmaka als Gefälligkeitsverschreibung

Das offenbart eine Schwachstelle im deutschen Gesundheitssystem: Ärzten, die Psychopharmaka als Gefälligkeit für das Heim massenweise verschreiben, das Handwerk zu legen, ist fast unmöglich.

Das erzählt der Leiter einer Heimaufsicht in Süddeutschland, der anonym bleiben will: „Ich habe schon einige Male versucht, gegen Ärzte vorzugehen, weil sie für die falsche Indikation Psychopharmaka verschrieben haben – ganz offensichtlich, um dem Heim einen Gefallen zu tun. Das Problem ist: Wir von der Heimaufsicht haben selbst keine Handhabe gegen sie.“ Die Kontrolle von Ärzten, erklärt er, obliege dem Gesundheitsamt. „Aber versuchen Sie mal, da einen Amtsarzt zu finden, der einen Berufskollegen abmahnt. Bei den Ärzten gilt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

Frau S. singt, textsicher, ein Lied von Heino. „Sie war das allerschönste Kind, das man in Polen find, aber nein, aber nein, sprach sie, ich küsse nie.“ In ihrer Hand wiegt sie im Takt eine gläserne Teetasse, zwischendurch tuschelt sie mit ihrer Tochter, die neben ihr sitzt. Frau S. lächelt viel an diesem Tag. Am Schluss klatscht sie im Takt in die Hände. „Wir machen durch bis morgen früh und singen Bumms-Fallera.“ Dann endet die letzte Videoaufzeichnung, die von Frau S. existiert.

Das Video wurde am 25. Oktober 2005 gedreht, und die Frau, die darauf zu sehen ist, hätte es so nicht geben dürfen. Denn nur wenige Wochen zuvor hatte ihr der MDK bescheinigt, ein kompletter Pflegefall zu sein: unfähig, sich selbst zu waschen oder selbst zu essen und zu trinken. Pflegestufe 3.

Tatsächlich war Frau S. am 26. Juli, als die Prüferin in ihr Seniorenheim kam, eine andere Frau: Die alte Dame hing an diesem Tag schief im Rollstuhl, konnte ihre Arme nicht heben oder ihren Namen nennen.  

Pharmafirmen sponsern Patientenorganisationen

Ihre Tochter Frau T., die beim Begutachtungstermin dabei war, erkannte ihre Mutter nicht wieder. „Es war, als hätte jemand das Licht ausgeknipst“, sagt sie. Das habe sie der Prüferin vom MDK auch gesagt – doch die habe erwidert: „Ich glaube Ihnen, aber so, wie ich Ihre Mutter heute antreffe, kann ich gar nicht anders entscheiden, als sie in Pflegestufe 3 einzuordnen.“ Frau T. sagt, sie habe nicht anders gekonnt, als zuzustimmen.

Sie und ihre Schwester haben sich, Jahre nach dem Tod der Mutter, zu einem Treffen bereit erklärt. Sie sitzen gemeinsam mit weiteren Angehörigen mittlerweile verstorbener Heimbewohner in einer Gaststätte in einem Vorort von Bremen. Organisiert hat die Zusammenkunft Frau W., die über die Medikamentengeschichte ihrer Mutter so akribisch Buch geführt hat. Die Gruppe eint der ehemalige Wohnort ihrer Mütter und Ehemänner: das Haus „Am Brunnen“ der Senioren Wohnpark Weser GmbH im niedersächsischen Stuhr-Brinkum.

Frau T. erzählt, ihre Mutter sei in den ersten Jahren im Wohnpark noch relativ fit gewesen. Eines Tages jedoch habe das Heim bei der Kasse eine höhere Pflegestufe für die Mutter beantragt – im Namen von Frau T.s Schwester, obwohl Frau T. zuständig gewesen wäre. Vom Einstufungstermin, den der MDK wenig später ansetzte, erfuhren die Schwestern zu spät. Nach einigem Hin und Her erreichte Frau T. schließlich einen zweiten Prüftermin – den, bei dem die Mutter völlig zugedröhnt gewesen sein soll.

In den Töchtern reifte ein Verdacht: Jahre zuvor hatte ihre Mutter das Beruhigungsmittel Diazepam – Laien vor allem unter dem Produktnamen Valium bekannt – verordnet bekommen, als „Bedarfsmedikation“. Bei diesen Mitteln kann der Pfleger entscheiden, wann sie gegeben werden. Zum Beispiel wenn der Patient akute Angstzustände hat. Experten wie Hirsch vermuten, dass Bedarfsmedikationen häufig zur Ruhigstellung missbraucht werden.

Frau T. sagt, sie sei sich sicher, dass ihrer Mutter vor dem MDK-Termin Diazepam verabreicht wurde. Denn bei einer anderen Gelegenheit habe eine Pflegerin zu ihr gesagt: „Wir brauchen mehr Bewohner in Pflegestufe 3, dann bekommen wir bald mehr Personal.“ Und: Der MDK stellte bei beiden Terminen zur Höherstufung fest, dass jeweils Diazepam-Zäpfchen auf der Medikamentenliste der Frau S. fehlten.