Chemische Gewalt gegen Senioren (Teil 1)

"Chemische Gewalt": Fast eine Viertelmillion Demenzkranke bekommen Psychopharmaka, um sie ruhig zu stellen – das spart Geld und Personal. 

Zur Ergänzung des heutigen Themas empfehle ich Ihnen unseren Beitrag Psychopharmaka und Vitalstoffe im Vitalstoff-Journal.

Wir alle werden älter. Das ist letztlich unumkehrbar. Und wenn wir (noch) nicht selbst davon betroffen sind, so werden wir alle über kurz oder lang über unsere Eltern mit dem Thema des Älterwerdens konfrontiert. Bei mir liegen nun seit einiger Zeit Berichte auf dem Schreibtisch, die einen erschreckenden Missbrauch von Medikamenten in Altersheimen aufzeigen. In lockerer Folge möchte ich Ihnen einige ausgewählte Beispiele davon zusenden.

Zehntausende Senioren mit Pillen ruhig gestellt

Herr M. macht viel zu viel Arbeit. Das haben die Pfleger im Altenheim seinen Verwandten schon häufig gesagt. Anstatt zu schlafen, laufe er nachts über die Gänge, meist mit einem Urinfleck in der Hose. Er halte laute Monologe und wecke seine Zimmernachbarn. Tagsüber bedränge er häufiger die weiblichen Bewohnerinnen der Station, manchmal auch die Pflegerinnen, mit sexuellen Anspielungen. Herr M. brauchte eigentlich einen Pfleger nur für sich allein, einen der rund um die Uhr für ihn da ist, ihm die Hosen wechselt und mit ihm spazieren geht.

Seit dem vergangenen Spätsommer ist etwas anders mit dem alten Mann, der in einem Heim einer großen Pflegekette lebt. Seither wechselt sein Zustand von einem Tag auf den anderen. Wie alle Betroffenen in diesem Text heißt Herr Moser in Wirklichkeit anders.

„Wenn wir meinen Vater besuchen, guckt er oft nur noch durch mich durch“, sagt seine Tochter. Er hänge apathisch in seinem Rollstuhl, die Arme schwer und leblos wie die einer Puppe, mit hängendem Unterkiefer. Selbst wenn man an seinen Schultern rüttle, reagiere er nicht. Als sein Enkel, selbst Altenpfleger, den Großvater zum ersten Mal in diesem Zustand sah, sagte er zu seiner Mutter: „Der Opa ist mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt.“ Auf die Frage, was sie ihm gegeben habe, sagte die diensthabende Pflegerin: „Der ist nur müde. Nachts schläft er ja nicht, irgendwann holt sich der Körper eben den Schlaf.“

Demenzkranke sind die idealen Opfer

Endgültig hellhörig wurden die Verwandten, als das Heim ankündigte, für den alten Herrn M. die höchste Pflegestufe beantragen zu wollen, Stufe 3. Schließlich könne er gar nichts mehr allein machen.

Demenzkranke Altenheimbewohner sind die idealen Opfer. Zu schwach, um sich zu wehren, zu verwirrt, um von unabhängigen Dritten ernst genommen zu werden, wenn sie sich beschweren. Die Angehörigen oft zu weit weg, zu beschäftigt, um sich für sie einzusetzen. Ein Rohstoff, aus dem sich im deutschen Pflegesystem mit illegalen Methodensehr viel Geld abschöpfen lässt.

Zum Beispiel indem man demenzkranken Heimbewohnern reihenweise starke Psychopharmaka verabreicht und sie damit so ruhigstellt, dass weniger Personal für ihre Pflege gebraucht wird. Davon profitiert - so ganz nebenbei - auch die Pharmaindustrie.

Das Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen hat berechnet, dass in Deutschland knapp 240.000 Demenzkranke zu Unrecht mit Psychopharmaka behandelt werden. „In diesen Fällen werden die Medikamente nicht verschrieben, um die Leiden der Patienten zu mindern oder ihre Krankheiten wirksam zu behandeln, sondern um Personal einzusparen und den Heimbetreibern höhere Gewinne zu bescheren“, sagt Professor Gerd Glaeske, der sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt. „Wir haben hier ein flächendeckendes Problem.“

Von den bundesweit 1,1 Millionen Demenzpatienten würden knapp 360.000 mit Neuroleptika behandelt. Studien im Auftrag des britischen Department of Health hätten ergeben, dass in zwei von drei Fällen die Medikamente zu Unrecht verordnet wurden und sich durch eine bessere Betreuung der Betroffenen hätten vermeiden lassen. Die Zahlen ließen sich problemlos auf Deutschland übertragen.

Glaeske ist ein Mann klarer Worte. Das Ruhigstellen mit Medikamenten nennt er „chemische Gewalt“ . Andere Wissenschaftler sprechen von „medikamentöser Fixierung“: Ob man den Alten mit einem Gurt am Bett festbinde oder ihn mit Drogen dazu bringe, dass er sich nicht mehr bewege und still sei, mache keinen Unterschied. Der Bonner Professor für Psychiatrie und Gerontologie Rolf D. Hirsch, der sich intensiv mit dem Problem der Gewalt gegen alte Menschen beschäftigt, bestätigt: „Das Problem, dass es in vielen Heimen eine bundesweite Übermedikation mit Psychopharmaka gibt, kennen wir seit Jahren.“

Leichtes Spiel für Betrüger

Kaum öffentlich bekannt ist dagegen, dass einige Heime offenbar die Senioren gezielt mit Medikamenten behandeln, um doppelt abzukassieren: Erst verabreichen sie Psychopharmaka und sparen am Personalaufwand. Dann beantragen sie beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK), den Senior – der nun ein echter Pflegefall ist – in eine höhere Pflegestufe einzuordnen.

Pro Jahr und Patient geht es dabei um mehrere Tausend Euro. So bezahlt beispielsweise im Berliner Heim einer bundesweiten Kette ein Bewohner in Pflegestufe 2 pro Monat 1755 Euro, viele erhalten dabei Unterstützung vom Sozialamt. Zusätzlich zahlt die Kasse maximal 1279 Euro, macht 3034 Euro pro Monat. In Pflegestufe 3 dagegen zahlen Bewohner oder Sozialamt 1860 Euro, dazu kommen bis zu 1550 Euro Kassenzuschuss, macht zusammen 3410 Euro Einnahmen fürs Heim.

Eine Differenz von fast 400 Euro, von der das Heim zusätzliche Pfleger einstellen müsste. Doch die existieren in der Realität oft nicht. Sie werden ja auch nicht gebraucht, wenn der Demente unter Drogeneinfluss weniger Arbeit macht. „Solche Fälle gibt es immer wieder“, sagt Psychiater Hirsch, dessen Verein „Handeln statt Misshandeln“ Pflegebedürftige und ihre Angehörigen über ein Notruftelefon berät.

Die Prüfer des MDK hinterfragten bei den Begutachtungsterminen den Umgang mit Beruhigungsmitteln kaum, sagt er. Wenn im Dokumentationsbogen kein solches Medikament auftauche, dann glaube der MDK das eben. „Wer betrügen will, für den ist es kein Problem“, sagt Hirsch.

Ob Patienten ruhiggestellt werden, hängt vom diensthabenden Pfleger ab. Die Verantwortlichen setzen laut Experten auf die Unwissenheit der Angehörigen. Ein Demenzkranker hat in der Regel einen rechtlichen Betreuer, meist Ehepartner oder Kind, der alle Entscheidungen trifft und die Verantwortung trägt. Über jedes verschreibungspflichtige Medikament muss der Betreuer aufgeklärt werden. Tatsächlich geschehe das oft nicht, sagt Heimrechtsexperte Thomas Klie von der Evangelischen Hochschule Freiburg. Der Jurist drückt es so aus: „Es herrscht eine große Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Praxis.“

Neuroleptika mit gefährlichen Nebenwirkungen

Das Ruhigstellen ohne Genehmigung ist nicht nur ungesetzlich, sondern auch gefährlich. Mehrere Studien belegen, dass Neuroleptika, eine Gruppe innerhalb der Psychopharmaka, die besonders dämpfend wirken, bei Dementen Herzinfarkte, schwerwiegende Infektionen wie Lungenentzündungen oder Schlaganfälle hervorrufen können.

Die US-Gesundheitsbehörde FDA warnte schon vor sechs Jahren, dass ältere Demenzkranke, die Neuroleptika einnahmen, eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate aufwiesen als eine Kontrollgruppe. Dennoch werden die Mittel oft über lange Zeiträume und ohne regelmäßige ärztliche Überwachung verabreicht. Dabei sind Neuroleptika vor allem für die Behandlung akuter Psychosen geeignet.

Natürlich gibt es auch Demenzkranke, denen Psychopharmaka helfen, etwa weil die Betroffenen gleichzeitig an Depressionen leiden und so von ihren Angstzuständen befreit werden. Doch bei vielen Patienten sind die Risiken weit größer als der Nutzen.

Die Zahl der Ruhiggestellten steigt unaufhaltsam. Weil die Menschen in Deutschland immer älter werden und sich das Budget der Pflegeversicherung damit auf immer mehr Köpfe verteilen muss, steigt der Anteil der über 90-Jährigen in den Heimen. Bei ihnen wiederum ist die Wahrscheinlichkeit einer Demenzerkrankung weit höher als bei jüngeren.

Laut Studien des Bremer Forschungsteams um Glaeske sind etwa 60 Prozent der rund 400.000 Heimbewohner in Deutschland dement. Mit ihrer Zahl steigen auch die Ausgaben. „Ein Demenzpatient, richtig therapiert und von genügend Fachpersonal versorgt, würde das deutsche Gesundheitssystem 45.000 Euro pro Jahr kosten“, sagt Glaeske.

Hinter diesen Zahlen stehen menschliche Dramen. Zum Beispiel das von Frau W. und ihrer Mutter. Die Tochter hat mehr als ein Jahrzehnt lang die Krankengeschichte ihrer Mutter dokumentiert. Zu ihrem Archiv gehört eine zweiseitige, klein gedruckte Liste, auf der steht, welche Medikamente ihre Mutter fünf Jahre lang bekommen hat.

Die Aufzählung liest sich wie die Inhaltsangabe des Medikamentenschranks für eine ganze Krankenstation: Über den Zeitraum von drei Jahren bekam die Mutter 35 verschiedene Mittel, davon 30-mal Psychopharmaka, mehr als ein Dutzend verschiedene Präparate. Frau W. erinnert sich noch gut daran, wie sie eine Pflegerin im Heim vor ein paar Jahren fragte, warum dort so viele Psychopharmaka verschrieben würden. Die Antwort: „Na, in erster Linie natürlich, um uns die Arbeit zu erleichtern, und in zweiter Linie, um Ruhe auf der Station herzustellen.“