Die wahren Ursachen chronischer Krankheiten – Teil 1

Es gibt auf dem Gebiet der orthomolekularen Medizin gottlob immer wieder neue Erkenntnisse. Wir hatten Ihnen in den letzten Wochen insbesondere zu Vitamin D eine Fülle dieser neuen Forschungsergebnisse bekannt gemacht. Im Moment arbeiten meine Frau und ich an der Zusammenstellung von Informationen zu Vitamin C. Sie werden demnächst mehr darüber lesen. Heute möchte ich Sie auf ein neues Thema hinweisen: Nitrosativer Stress. Hier gibt es – und sogar überraschenderweise aus Deutschland – neue bahnbrechende Ergebnisse.

Immer noch irrlichtern Patienten mit Diabetes, Alzheimer oder Krebs von Arzt zu Arzt ohne wirkliche Hilfe zu finden. Die wahren Ursachen von vielen Multisystemerkrankungen werden nämlich bis heute selten behandelt, obwohl sie längst erforscht wurden. Der Facharzt für Innere Medizin, Dr. med. Wolfram Kersten, stellt hier auf anschauliche Weise dar, warum chronische Krankheitsprozesse oft in den Mitochondrien beginnen und wie man sie stoppen kann.

Für die Fachleute unter Ihnen - und auch wenn Sie sonst Interesse haben - halte ich noch zwei weitere allerdings mehr wissenschaftliche Unterlagen für Sie bereit. Schreiben Sie mir, ich sende Ihnen diese Ausarbeitungen gern zu, denn ich glaube, man kann mit diesen neuen Erkenntnissen gerade bei chronischen Krankheiten sehr viel Gutes tun …

Heute beschäftigen wir uns mit den Grundlagen, im nächsten Brief geht es dann um die Therapiemöglichkeiten.

Wie Stress, falsche Ernährung und Umweltgifte die Zellen zerstören

Zelle mit Mitochondrium im Querschnitt: Das Mitochondrium ist eines der lebenswichtigen Zellorganellen.
Zelle mit Mitochondrium im Querschnitt: Das Mitochondrium ist eines der lebenswichtigen Zellorganellen.

Von Dr. med. Wolfram Kersten, Bamberg

Die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Stress in Mitochondrien und chronischen Multisystemerkrankungen geht auf die molekularbiologischen Forschungen der letzten 15 bis 20 Jahre zurück. Sie wurde besonders durch Prof. Martin L. Pall vom Institut für Molekularbiologie am Washington State University, sowie hierzulande durch Dr. med. Heinrich Kremer, der die so genannte Zellsymbiosetherapie entwickelte, und den Internisten und Umweltmediziner, Dr. sc. med. Bodo Kuklinski zur Kenntnis gebracht.

Diesen mutigen Forschern, engagierten Ärzten und einer Vielzahl von internationalen Grundlagenforschern haben wir die Erkenntnis zu verdanken, dass Gesundheit, Alterung und Krankheit im wesentlichen auf der Ebene der Mitochondrien entschieden wird, weswegen diese Erkrankungen auch als Mitochondriopathien bezeichnet werden. Die Entwicklung dieser Multisys-temerkrankungen, die durch die Lebensbedingungen in so genannten Zivilisationsländern gefördert und ausgelöst werden, sind eng verknüpft mit der Funktion dieser Mitochondrien – kleinen, bakterienähnlichen Zellorganellen, die man auch die „Kraftwerke“ der Zelle nennt. Jede Zelle enthält zwischen 100 und 2 000 solcher Mitochondrien, die in Form von ATP (Adenosintriphosphat) jene Grundenergie liefern, die eine Muskelzelle fähig macht, Kraft zu entwickeln, eine Drüsenzelle befähigt, Hormone herzustellen oder eine Nervenzelle, Informationen weiterzuleiten.

Stress bei den Mitochondrien

Mitochondrien verfügen über ein eigenes Erbmaterial (DNA/Desoxyribonukleinsäure). Eine Funktion der Mitochondrien-DNA ist es, einen wesentlichen Teil der Proteine herzustellen, die in Form von fünf verschiedenen, miteinander verknüpften Enzymkomplexen die Produktion von großen Mengen von ATP gewährleisten. Diese Enzymkomplexe enthalten Eisen-Schwefel-Zentren, die besonders oxidationsanfällig sind. Dies wird ihnen zum Verhängnis bei chronischem nitrosativem Stress, der zum Beispiel durch Infektionserkrankungen, Umweltgifte, körperliche und schwere psychische Belastungen entstehen kann. Der Körper produziert dabei induzierbares Stickoxid (iNO) und das weit toxischere Peroxinitrit. Dabei kommt es zu einer Blockade oder zur Zerstörung der erwähnten Enzymkomplexe.

Dadurch fällt nicht nur die ATP Produktion ab, womit die Leistung der Zelle gemindert wird, sondern gleichzeitig entsteht intensivierter oxidativer Stress. Das heißt, es kommt zu einem massiven Anstieg von Sauerstoffradikalen, die zusätzliche, schwerwiegende Schäden in der Zelle auslösen können. Schäden, die bis zum so genannten programmierten Zelltod, von den Mitochondrien in die Wege geleitet , führen können.

Oxidativer Stress führt zu Mutationen der mitochondrialen DNA und der Zellkern-DNA, aber auch zu Schäden an anderen Zellbestandteilen und lebenswichtigen Enzymen. Für den Betroffenen kann sich dies in einer deutlichen Leistungsminderung besonders jener Organe bemerkbar machen, die einen hohen Energiebedarf haben. Eine deutliche Einschränkung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit kann, neben vielen anderen Symptomen, die Folge sein. Diese zerstörerischen Auswirkungen betreffen eine Vielzahl von Körperfunktionen und sind sehr komplex.

Prof. Pall nannte 22 veschiedene Ebenen im Körperstoffwechsel, auf denen sie stattfinden. Aufgrund dieser Komplexität führen derartige Mitochon driopathien zwangsweise zu so genannten Multisystemerkrankungen, die die Patienten in der Regel zwingen, die unterschiedlichsten Fachärzte aufzusuchen. Denn die Verknüpfung all dieser Symptome vor dem Hintergrund des pathologisch erhöhten nitrosativen Stresses wird bisher noch zu wenig erkannt. Und leider werden die einzelnen Beschwerden in der Regel nur symptomatisch behandelt.

Aufbau eines Mitochondriums: Mitochondrien sind winzige Organe (Organellen), die in den meisten kernhaltigen Zellen (Eucyten) in unterschiedlich großer Anzahl vorkommen. Sie spielen bei der Herstellung der für den Zellstoffwechsel benötigten Energie ei
Aufbau eines Mitochondriums: Mitochondrien sind winzige Organe (Organellen), die in den meisten kernhaltigen Zellen (Eucyten) in unterschiedlich großer Anzahl vorkommen. Sie spielen bei der Herstellung der für den Zellstoffwechsel benötigten Energie eine zentrale Rolle.

Definition „nitrosativer Stress“

Unter chronischem, nitrosativem Stress versteht man die vermehrte Bildung von induzierbarem Stickoxid (iNO) und seinem oxidativen, weit aggressiveren Abbauprodukt Peroxinitrit. Man nennt es deswegen so, weil seine Bildung üblicherweise in Immunzellen durch Angriffe von Viren und Bakterien oder Parasiten ausgelöst, also induziert wird. Im Krankheitsfall kann iNO aber auch in allen anderen Körperzellen entstehen, wo es schwerwiegende Schäden setzt. Der dabei entstehende, biochemische Circulus vitiosus, Professor Martin L. Pall nannte ihn den NO/ONOO-Zyklus, der komplexe, zellschädigende Reaktionen zur Folge hat, kann durch verschiedene, nur kurz einwirkende Stressoren ausgelöst werden. Selbst dann, wenn diese Auslöser längst abgebaut sind, bleibt dieser „biochemische Teufelskreis“ bestehen und erklärt damit die Tatsache chronisch verlaufender Erkrankungen, wie zum Beispiel das Chronische Müdigkeitssyndrom (CFS), die Fibromyalgie (FM), die Multiple Chemikalienunverträglichkeit (MCS) und viele andere mehr.

Unabhängig davon gibt es physiologische Formen des NO mit sehr wichtigen Funktionen:

  • Neuronales NO (nNO) - ein wichtiger Neurotransmitter
  • Endotheliales NO (eNO) – ein Transmitter für Gefässerweiterung
  • Induzierbares NO (iNO) - ein Immunregulator
  • Mitochondriales NO (mNO) – ein Stoffwechselregulator für Synthese, Proliferation und Apoptose (Zelltod).

Auslöser für nitrosativen Stress

Folgende Faktoren gelten als gesicherte Auslöser:

  • Virale, bakterielle und parasitäre Infektionen
  • Physische Traumata, besonders im Bereich des Halses (Schleudertrauma) und Kopfes
  • Schwere psychische Traumatisierungen
  • Toxische Belastung mit diversen Umweltgiften und Chemikalien wie Insektizide, Pestizide, Lösungsmittel, toxische Schwermetalle

Verstärker für nitrosativen Stress

Daneben gibt es Faktoren, die als Verstärker auf das Geschehen wirken:

  • Starke geistige und körperliche Belastung
  • Bakterielle und virale Infekte
  • Psychostress
  • Nitratreiche Ernährung, geräucherte, mit Kunstdünger belastete Nahrungsmittel
  • Medikamente wie Antibiotika, Statine, Nitrate, Potenzmittel, Arginin, Herzmittel wie Enalapril
  • Instabilität der Halswirbelsäule
  • Kohlenhydratreiche Ernährung
  • Elektromagnetische Felder, erzeugt zum Beispiel durch Mobilfunk

Biochemischer Teufelskreis

Nitrosativer Stress setzt eine Vielzahl biochemischer Prozesse in Gang, die miteinander vernetzt sind und sich gegenseitig verstärken. So stimuliert das besonders schädliche Peroxinitrit jene Enzyme (Nitritoxidsynthasen), die wiederum zu einer vermehrten Bildung von Nitritoxid führen, jenem Stickstoffradikal, aus dem Peroxinitrit gebildet wird. Dies erklärt die Aufrechterhaltung eines chronisch fortbestehenden „biochemischen Teufelskreises“, der in nahezu allen Zellen des Körpers aktiviert werden kann.

Es ist wichtig zu verstehen, dass ein derartiger „biochemischer Teufelskreis“, durch welchen Auslöser auch immer auf den Weg gebracht, in der Regel ohne therapeutische Maßnahmen nicht zu stoppen ist und auf lange Zeit immer mehr zunehmende Schäden durch den immer größer werdenden Ausfall von mitochondrialen Enzymen auslöst. So wird verständlich, dass der nitrosative Stress eines jungen Menschen innerhalb von Jahren seine Leistungsfähigkeit bis hin zur kompletten Erwerbsunfähigkeit mindern kann, wird diese Stoffwechselanomalie nicht frühzeitig diagnostiziert und entsprechend behandelt.

Dieser Symptomenkomplex tritt in unterschiedlicher Verteilung und darum sehr verschiedener klinischer Symptomatik auf, was bisher die diagnostische Einordnung erschwerte. Letztendlich erklärt sie sich aber als Folge der beschriebenen Mitochondriopathie, die alle Organsysteme in individuell wechselnder Intensität erfassen kann.

Darüber hinaus werden inzwischen viele Erkrankungen in direkten Zusammenhang mit diesem biochemischen Teufelskreis, dem NO/ONOO-Zyklus, gebracht und müssen deshalb als erworbene Mitochondriopathien angesehen werden. Zu ihnen gehören: Arteriosklerose, Psoriasis (Schuppenflechte), Metabolisches Syndrom, Neurodermitis, Diabetes mellitus, Hypertrophe Kardiomyopathie, Herzrythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Parkinsonsyndrom, Endometriose, Alzheimer Erkrankung, Mastozytose, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Porphyrie, Multiple Sklerose, Adipositas, Makuladegeneration (AMD), chronische Abwehrschwäche, Glaukom, Reizblase, Schilddrüsenerkrankungen (Hashimoto), Polyneuropathien, Fruktose-, Gluten- und Laktoseintoleranzen, Krebs, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, Epilepsien, Migräne, Refluxösophagitis, Reizdarmsyndrom, Polyarthralgien, Polyarthrose und AIDS.

Der Autor

Dr. med. Wolfram Kersten, geb. 21.12.1947 in Frankfurt/Main, Staatsexamen 1976 an der Universität Erlangen mit dem Ergebnis sehr gut; 1977–1985 Facharztausbildung Innere Medizin, 1986 Promotion; seit 1986 Tätigkeit als niedergelassener Arzt, seit 2008 Privatpraxis für Innere Medizin in Bamberg mit Schwerpunkt Prävention und Therapie Chronischer Zivilisationskrankheiten; Publikationen (siehe Homepage des Autors): „Paradigmenwechsel im Verständnis Chronischer Zivilsationserkrankungen“, „Prävention und Therapie der Makuladegeneration“, „Prävention und Therapie des Parkinson-Syndroms“, Internet: www.dr-kersten.com.